Russland: Kasan und Tatarstan (Russische Impressionen, Teil 2)

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Kul-Sharif-Moschee in Kasan, Russland, winklerchristopher / Christopher Winkler / Pixabay

Reisen in Zeiten der Corona-Pandemie

Im Frühherbst 2020, als dieser Reisebericht geschrieben wird, wütet die Corona-Pandemie bereits mehr als ein halbes Jahr. Vieles ist in den letzten Monaten schwieriger und gewöhnungsbedürftiger geworden. Die Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt, und an spontanes Reisen – zumal ins Ausland – ist kaum zu denken. Viele Reisen werden abgesagt, übrig bleiben Ausflüge in die nähere Umgebung, um so die Reize des eigenen Landes kennenzulernen.

Mit einer gewissen Wehmut denken wir daran, wie einfach es noch zum Anfang des Jahres war, eine Reise oder ein Zug- oder Flugticket zu buchen und den Aufenthalt in der Fremde zu genießen.

Zugfahrt nach Kasan

Zwischen 2014 und 2018 wohnten meine Frau und ich in Jekaterinburg, einer vielleicht nicht jedermann bekannten Stadt, aber immerhin der größten Stadt am Ural, die bis zur Wende Swerdlowsk hieß und nicht zuletzt deswegen bekannt ist, weil dort im Jahr 1918 die Zarenfamilie ihre letzten Tage verbrachte, bevor sie von den Bolschewiken umgebracht wurde.

Von Jekaterinburg aus unternahmen wir verschiedene Reisen. Aufgrund der großen Entfernungen innerhalb Russlands werden die Reisen im Land überwiegend mit dem Flugzeug durchgeführt. Die Entfernung von Jekaterinburg nach Kasan beträgt ca. 800 km. Es wäre naheliegend gewesen, das Flugzeug zu nehmen. Es hat jedoch einen nicht zu überbietenden Charme, die Strecke mit der Bahn zurückzulegen.

Dazu muss man wissen, dass eine Fahrt mit dem Zug nicht mit der Fahrt im ICE in Deutschland zu vergleichen ist. Für die Strecke benötigt man 14 Stunden. Im „Bummelzug“ kann man wunderbar die Landschaft an sich vorüberziehen lassen.

Auf dem Weg nach Kasan, Foto: Ludwig Neudorfer

Bevor man den Zug besteigen darf, werden die Ausweispapiere kontrolliert. Der Zug verfügt in der Regel über folgende Klassen:

Sitzwagen

Platzkart (offene Abteile mit Schlafmöglichkeit)

Coupé (Abteile mit Schlafmöglichkeiten für vier Personen)

und Luxe (mit Dusche im Wagon oder sogar im Abteil. Die meisten Abteile verfügen über eine eigene Toilette oder ein Badezimmer. Weitere Annehmlichkeiten sind TV und individuelle Klimaanlage). Luxe-Wagons gibt es verhältnismäßig selten, außerdem sind sie recht teuer.

Wir haben uns bei unseren drei Fahrten nach und von Kasan (August 2015, Mai 2016 und August 2017) mit dem Coupé-Wagon begnügt. Bevor die Bettwäsche verteilt wird, muss man auch dort die Ausweispapiere vorzeigen. Besondere Bequemlichkeiten gibt es im Coupé-Wagon nicht. Immerhin kann man bei der Zugbegleiterin Tee und kleine Snacks erwerben. Im Wagon ist es hinreichend bequem, so dass man dort auch Mahlzeiten zu sich nehmen kann. Auf der ersten Fahrt waren wir zu zweit unterwegs, bei den nächsten beiden Fahrten waren wir in Begleitung von Freunden aus Deutschland, so dass wir uns um Unterhaltung nicht weiter kümmern mussten.

Für den-/diejenige(n), der/die das erste Mal in einem Coupéwagon unterwegs ist und der/die das obere Stockbett zugeteilt bekommt, mag es eine Herausforderung sein, das enge Leiterchen zu erklimmen, das zum Schlafplatz führt. Noch schwieriger ist es, von oben herunterzukommen. Es ist eine Überlegung wert, das Leiterchen ganz zu vermeiden und gleich von oben auf den Boden zu springen.

Auf der Fahrt nach Kasan kommen wir an zahlreichen Dörfern mit Holzhäusern, an Birkenwäldern sowie Seen und Flüssen vorbei (eben so, wie ihr Euch die russische Provinz vorstellt, nachdem Ihr Bücher von Tschechow oder Tolstoj gelesen habt).

Dem einen oder anderen mag es gelingen, auf der holprigen Strecke zu schlafen – mir ist es allerdings nie gelungen. Eine besondere Attraktion ist übrigens die Toilette, von denen es jeweils ein Exemplar an jedem Ende des Wagons gibt. Auch wer kein Bedürfnis verspürt, dem empfehle ich unbedingt einen Besuch des „Örtchens“.

Kasan

Kasan ist die Hauptstadt der Republik Tatarstan, hat etwas mehr als eine Million Einwohner und wird je zur Hälfte von Russen und Tataren bewohnt. Letztere sind überwiegend islamischen Glaubens.

Der Kreml, Foto: Ludwig Neudorfer

Die Stadt ist ein wichtiges Zentrum des Islam und ist ein Vorzeigebeispiel für das friedliche Miteinander von verschiedenen ethnischen Gruppen und Religionen. Wie nicht anders zu erwarten, sprechen viele Tataren Russisch, während kaum ein Russe Tatarisch spricht. Kasan ist ein wichtiges russisches Zentrum für den Islam, daneben ein wichtiger Standort für Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur.

 

Übernachtung

Natürlich ist es nicht möglich, an dieser Stelle ein allgemeingültiges Urteil über die Übernachtungsmöglichkeiten in Kasan abzugeben. Während des ersten Aufenthalts wohnten wir im Hotel „Pierre“, einem eher einfachen Hotel und etwas abgelegen von den üblichen Touristenwegen. Bei den nächsten beiden Aufenthalten achteten wir mehr auf die zentrale Lage des Hotels und wählten das Hotel „Nogay“, ein gutes Mittelklasse-Hotel, verhältnismäßig preisgünstig, strategisch ideal an der Bauman-Straße (Fußgängerzone) gelegen und in Sichtweite des Kasaner Kremls. Nach dem Stand von 2017 kann ich dieses Hotel mit voller Überzeugung empfehlen.

Wie verständigt man sich als ausländischer Tourist

Kasan gehört nicht wie Moskau oder St. Petersburg zu den von ausländischen Touristen bevorzugten Städten in Russland. Wer nach Kasan oder Tatarstan reist, sollte über gute Russisch-Kenntnisse verfügen, es sei denn, er ist bei der Suche nach einem deutsch- oder englischsprachigen Führer fündig geworden.

Sehenswürdigkeiten

Wer eine Reise nach Kasan unternimmt, kommt am Kreml nicht vorbei. Im Unterschied zu anderen Kreml-Anlagen in Russland vereint der Kasaner Kreml orientalische und westliche Einflüsse und steht somit ebenfalls für das harmonische Miteinander zwischen Orient und Okzident. Auffälligstes Bauwerk ist die Kul-Scharif-Moschee, die zweitgrößte Moschee in Russland, die erst vor wenigen Jahren erbaut wurde.

Kul-Sharif-Moschee, Foto: Engelbert Piltz

Gleich daneben befindet sich die Mariä-Verkündigungs-Kathedrale, deren Vorgängergebäude im 16. Jahrhundert erbaut wurde. Das jetzige Aussehen hat sie im Wesentlichen im 19. Jahrhundert bekommen.

Mariä-Verkündigungskathedrale, Foto: Ludwig Neudorfer

Neben vielen anderen Sehenswürdigkeiten, die die Stadt bietet, ist es es sicher eine Überlegung wert, einen Abstecher zur Gottesmutter von Kasan zu unternommen. Dabei handelt es sich um eine Ikone, die in der ursprünglichen Fassung im 16. Jahrhundert von einem kleinen Mädchen in den Ruinen ihres niedergebrannten Hauses gefunden wurde, nachdem ihr die Gottesmutter im Traum erschienen sein soll. Die ursprüngliche Ikone ist verschollen. Eine aus dem 18. Jahrhundert stammende Kopie der Ikone befindet sich nach vielen Wirrungen seit dem Jahr 2005 in der Kreuzerhöhungskirche.

Gottesmutter von Kasan in der Kreuzerhöhungskirche, Foto: Ludwig Neudorfer

Eine weitere Sehenswürdigkeit ist die Peter- und Paul-Kathedrale, unweit des Kreml gelegen und eines der wichtigen geistlichen Symbole Kasans. Fjodor Schaljapin, Opernsänger und großer Sohn der Stadt, sang häufig während des Gottesdienstes in der Kathedrale.

Peter- und Paul-Kathedrale, Foto: Ludwig Neudorfer

 

Alexander Puschkin, Foto: Ludwig Neudorfer

 

Unterhaltung

Kasan bietet für jeden Geschmack etwas. Es gibt sowohl ein Opernhaus wie eine Konzerthalle. Wer es sich einfach machen möchte, geht einfach abends durch die Bauman-Straße und findet Darbietungen aller Art. Ob südamerikanische Flötenspieler, Äffchen, die ihre Kunststücke vorführen oder Musikbands, die ihr Können zum Besten geben.
Wir entschieden uns, den „nationalen Komplex“ Tugan Avylym, einem tatarischen Dorf nachempfunden, am Ende der Bauman-Straße aufzusuchen (Tufana Minnullina St., 14/56).

Der „nationale Komplex“ Tugan Avylym, Foto: Ludwig Neudorfer

Dort findet man zahlreiche Gebäude im tatarischen Stil. Ein Holzgebäude wird als Teddybären-Museum genutzt. Wir haben es uns nicht nehmen lassen, bei jedem Besuch dieses Museum aufzusuchen. Beim letzten Besuch überreichten wir einen Stuttgart-Teddybär, der möglicherweise inzwischen ebenfalls ausgestellt wird.

Bärenhaus, Foto: Ludwig Neudorfer

Unter Bären, Foto: Ludwig Neudorfer

Ein Gebäude in der Anlage wird als Restaurant und für Veranstaltungszwecke verwendet. Sowohl im Jahr 2016 wie im Jahr 2017 besuchten wir die dort dargebotene sehr schöne tatarische Folkloreshow mit Musik und Tanz und Anleihen aus verschiedenen tatarischen Märchen und Legenden.

Tatarische Folklore-Show (Die Geschichte des Jungen, der von einer Wölfin großgezogen wurde) Foto: Ludwig Neudorfer

 

Tatarische Folklore-Show, Foto: Ludwig Neudorfer

Von 2016 auf 2017 konnten wir eine für den ausländischen Besucher erfreuliche Ergänzung feststellen. Über eine für das Publikum gut sichtbare Leinwand wurde der Text mit dem wesentlichen Inhalt der Geschichten in englischer Sprache vermittelt.

Junges Paar in tatarischer Tracht, Foto: Ludwig Neudorfer

 

In das Land der Wolgabulgaren – auf nach Bolgar!

Bei unserer letzten Reise nach Kasan entschließen wir uns, einen Abstecher in die Heimat der Wolgabulgaren zu unternehmen. Wir besorgen uns die Tickets für den Ausflug am Bahnhof von Kasan und fahren im Bus über gute Straßen in Richtung Bolgar. Unterwegs genießen wir die Atmosphäre der kleinen, verschlafenen Dörfer und der bezaubernden Landschaft, bis wir schließlich zu dem wunderschön über der Wolga gelegenen Bolgar kommen, wo angeblich die Islamisierung Tatarstans begann. Die Anfänge der Einwanderung der Wolgabulgaren gehen zurück bis ins 7. Jahrhundert. Bis in das 13. Jahrhundert existierte das Reich der Wolgabulgaren, das eine hohe Kultur und einen für die damalige Zeit hohen Bildungsstand bei der Bevölkerung aufzeigte, bis schließlich die Mongolen in das Gebiet eindrangen und ihre eigene Kultur aufdrängten.

Die islamische Religion konnte sich dennoch über diese Zeit hinweg in Tatarstan halten.
Heute ist Bolgar ein großer archäologischer Komplex mit Gebäuden und Erinnerungsstücken aus der Zeit der Wolgabulgaren, teilweise wurden Gebäude in dem nachempfundenen Stil der Wolgabulgaren in den letzten Jahren erbaut. Besonders ins Auge fällt die Weiße Moschee, die erst in den letzten Jahren erbaut wurde. Das architektonische Ensemble enthält u.a. einen künstlichen Teich, von dem aus man wunderbar den Blick auf die Moschee und die ruhige Atmosphäre dieses Ortes genießen kann.

Die weiße Moschee, Foto: Ludwig Neudorfer

Die Moschee beherbergt übrigens den größten Koran der Welt (1,5 x 2 m und 800 kg schwer).
Wir nehmen uns ausgiebig Zeit, um möglichst viele Eindrücke aus Bolgar mitzunehmen.

Russische Kirche und Moschee bei Bolgar, Foto: Ludwig Neudorfer

Die Museen bieten einen guten Überblick über die Lebensweise der Wolgabulgaren. Draußen haben wir Gelegenheit, das tatarische Museumsdorf zu besichtigen, das in den Gebäuden u.a. Werkzeuge und Geräte beherbergt, die zur Zeit der Wolgabulgaren verwendet wurden.

Tatarisches Museumsdorf; Foto: Ludwig Neudorfer

Die Wolga bei Bolgar, Foto: Ludwig Neudorfer

Am Abend fahren wir zurück nach Kasan und lassen unter dem Eindruck des Erlebten den Abend in einem netten Restaurant ausklingen. Am nächsten Morgen fahren wir mit dem Zug die 800 km zurück nach Jekaterinburg.

Abendliche Impression mit dem Hotel Schaljapin und dem Denkmal für den berühmten Sänger, Foto: Ludwig Neudorfer

Bauman-Straße am Abend, Foto: Ludwig Neudorfer

Fazit

Kaum jemand in Deutschland wird sich mit der Frage beschäftigt haben, ob er eine Reise nach Kasan unternehmen soll. Dabei wird Kasan extrem unterschätzt. Die Stadt hat zwar nicht das barocke Flair von St. Petersburg und nicht die weltstädtische Atmosphäre von Moskau, doch ist Kasan durchaus eine Reise wert. Die Stadt ist lebendig und hat ein reges kulturelles Angebot. Auch außerhalb der Stadt wird Vieles geboten. In Bolgar sind wir  einem Reisenden begegnet, der nur spanisch und englisch sprach, für uns blieb es ein Rätsel, wie er geschafft hat, als Individual-Tourist bis nach Bolgar zu kommen. Mit etwas Optimismus und Unternehmensdrang scheint es möglich zu sein, auch in Russland überallhin zu kommen.

 

Reiseliteratur

Kazan – The Portrait in the Impressionist Style (englisch) von Sergey Sokolov – herausgegeben im Verlag Otechestvo (Kasan)

 

Mehr Russland in diesen Reiseberichten:

St. Petersburg: Russische Impressionen, Teil 1

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Russland: Reisen in der Provinz (Russische Impressionen, Teil 3)

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Titelbild: Kul-Sharif-Moschee in Kasan, Russland, winklerchristopher / Christopher Winkler / Pixabay

 

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