Paraguay 1986: Auswanderer, Diktatoren und Mormonen

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a view of a city from a bird's eye view
  
Infobox
Autor:Olaf Remmers
Reisezeit:Juni/Juli 1986 für den Teil „Paraguay“
Art der Reise:Selbstfinanzierte Rucksackreise
Lesezeit: 39 Minuten
  

Tagebuch 2. Südamerika-Reise: Perú, Bolivien, Argentinien, Paraguay, Brasilien, Uruguay

 

Anmerkung: Nach meiner ersten Südamerikareise 1984 durch die Andenländer und dem anschließenden Eintritt ins Berufsleben war meine Reiselust noch lange nicht gestillt. Nach zwei Jahren Berufstätigkeit nutzte ich einen Arbeitgeberwechsel zu einer zweiten dreimonatigen Südamerikareise, auf deren zweiter Hälfte in Brasilien und Argentinien mich meine Freundin, die inzwischen seit über 36 Jahren meine Ehefrau ist, begleitete.

Der Text meines Tagebuchs von 1986 wurde fast unverändert übernommen. Die Rechtschreibung wurde angepasst und auf die Umrechnung in DM (Deutsche Mark, die Älteren werden sich erinnern) wurde verzichtet. Die damals gültigen Landeswährungen wurden beibehalten.

Informationen aus dem Internet gab es damals natürlich noch nicht, geschweige denn Verbindungen zu Freunden oder Familie über What’s App oder ähnliches. Die beste Verbindung waren postlagernde Briefe (wer kennt das noch?) oder in Notfällen extrem teure Telefonate. Ich war also drei Monate lang auf mich allein gestellt! Mein handgeschriebenes Tagebuch war das einzige Lebenszeichen, das ich regelmäßig per Post nach Hause schickte. Meine Mutter hat es sofort mit der Schreibmaschine abgeschrieben, um die Herausforderungen meiner Handschrift zu kompensieren. Nach Jahrzehnten in einem Leitzordner im Keller konnte ich das wiederentdeckte Tagebuch nun problemlos in WORD einscannen und als TXT-Datei dem ReiseFreak’s ReiseMagazin und ReiseBlog zur Verfügung stellen, inklusive fast 40 Jahre alter Dias, die trotz teilweise zweifelhafter Qualität in digitalisierter Form Eingang fanden.

 

 

 

Teil 4: Paraguay zu Zeiten des deutschstämmigen Diktators Stroessner

Nach sehr interessanten Tagen in Nord-Argentinien (s. Teil 3) fährt von Resistencia (Argentinien) schon bald ein Bus nach Clorinda (Paraguay), das direkt an der Grenze liegt. Allerdings kriege ich leider keine Karte für einen Sitzplatz. Aber geschickterweise überhole ich im Bus die anderen Stehenden und kriege doch einen Sitzplatz, nämlich in der unbenutzten Bordküche. So gelange ich in einer 4½-stündigen Fahrt bis nach CLORINDA. Die Fahrt führt hauptsächlich durch recht feuchte Gebiete, die teilweise sogar unter Wasser stehen. Größtenteils ist alles mit Palmen bewachsen. In Clorinda fährt der Bus bis direkt an die Grenze, wo ich gleich meinen Ausreisestempel aus Argentinien bekomme. Via internationale Brücke geht’s über den Rio Pilcomayo nach Paraguay.

Paraguay wurde seit 1954 von dem Militärdiktator Alfredo Stroessner regiert und gehörte somit nicht zu meinem „Beuteschema“. Aber da das unbekannte Land auf meiner Strecke lag, gab ich mir einen Ruck und habe es trotzdem besucht. Und dabei viele interessante, kuriose aber auch abschreckende Erlebnisse gehabt! [Bereits drei Jahre später beendete ein anderer Diktator die ungewöhnlich lange Regierungszeit Stroessners.]

 

PARAGUAY

Flagge von Paraguay

Ein recht schlicht aussehender Soldat fängt mich auf der anderen Brückenseite gleich ab und fragt nach dem Pass. Dann schickt er mich zur Immigrationsstelle. Zuerst werde ich befragt, ob ich auch kein Reporter sei und dann werden meine Personalien in ein dickes Buch eingetragen. Am nächsten Schreibtisch kriege ich eine Touristenkarte, für die ich 3 US-$ zahlen muss und erhalte meinen Stempel, der für drei Monate gilt. Schließlich muss ich noch zum Zoll. Das ganze Gebäude ist recht locker – dreckig-bolivianisch gehalten. überall stehen junge Soldaten (15-16-jährig) mit alten Knarren ‚rum, während die Zoll- und Grenzmenschen keine Uniform tragen.

Der Unterschied zu den korrekten argentinischen Büros und Kleidung ist gravierend. Vor diesem Gebäude stehen Wechsler, und ich erhalte für 20 US-$ 13.000 Guaranís (Gs.). Der Kurs ist o.k., denn zum Glück weiß keiner, dass ich in diesem Moment nicht die geringste Ahnung habe, wie der Kurs steht. Dann geht’s um die Frage, wie komme ich weiter nach Asunción, der Hauptstadt Paraguays, wohin es noch ca. 50 km sind. „Taxis“, d.h. Bruchkarren, bei denen nicht im Entferntesten sicher ist, ob sie die Strecke auch durchhalten, gibt es genug. Aber sie wollen von mir umgerechnet 25,- DM für die Strecke haben – völlig ausgeschlossen. Ich sage, ich habe Zeit und kann warten, bis ein Taxi voll und damit billig ist. Dabei denke ich an die marokkanische Grenze bei Ceuta, wo es mir exakt genauso erging. Dann komme ich mit zwei Frauen ins Gespräch, die auch nach Asunción wollen und denen ich auf die Frage, ob mir Argentinien gefallen habe, „nicht so richtig“ antworte.

Später stellt sich heraus, dass sie Argentinierinnen sind – sehr lustig! Dann ist noch ein japanisches Mädchen da, das nach Asunción will und schließlich ein Paraguayer, der Walter heißt und mich gleich merkwürdig auf Englisch anquatscht („Do you speak English, man?„). Bis diese alle zusammen sind, vergehen gut 1½ Stunden in ziemlicher Hitze, in denen ich zig Interviews gebe, wie, was, wo etc. ich mache. Letztlich lassen wir uns von einem Taxifahrer bis zur „Puente“ bringen, ungefähr der halben Strecke, was pro Person 600 Gs. (1 US-$) kostet, denn von dort an fährt alle zehn Minuten ein billiger Stadtbus. Dann quetschen wir uns zu sechst (+ Fahrer) in ein kleines japanisches Auto, das uns stotternd und fast ohne Bremsen bis zur Puente bringt. Während der Fahrt lädt Walter mich ein, doch noch mit ihm zu kommen, dort könnte ich wenigstens eben duschen und essen. Erst will ich nicht recht, komme dann aber doch mit. Er wohnt in einer Kolonie, die Remanso heißt, und wo viele kleine, saubere Häuschen mit Garten stehen. Diese Kolonie ist nur fünf Minuten zu Fuß von der Brücke entfernt. Die Brücke ist übrigens vor acht Jahren von den Spaniern gebaut worden und überspannt den Rio Paraguay, der hier ungefähr die Ausmaße des Rheins bei Köln hat.

Das Haus, in dem Walter wohnt ist klein, aber sauber und komplett eingerichtet. Nach der Haustür steht man sofort im Wohnzimmer mit Polstermöbeln und Farb-TV. Die direkt anschließende Küche hat Herd, Kühlschrank etc. Von dort geht’s auf die Terrasse und in den tropisch wuchernden Garten. Walters Zimmer ist mit Poster, Büchern, Stereo-Anlage etc. eingerichtet. Das Badezimmer mit Waschbecken, Klo und Dusche, die ich gleich benutze. Das ist herrlich nach der durchfahrenen Nacht und bei der feuchten Hitze, die hier herrscht. Walter lebt hier mit seiner Mutter, die aber z.Zt. in Clorinda (Argentinien) im Krankenhaus sei. Außerdem haben sie noch eine Hausangestellte. Nach der wunderbaren Dusche gibt’s Mittag (Pfannkuchen) und dann eine Siesta – so kann man leben. Eigentlich wollte ich ja dann gleich weiter nach Asunción, aber so wie es hier aussieht, lasse ich mich gerne breitschlagen, über Nacht zu bleiben, wofür Walter mir sein Bett abtritt. Nachmittags zeigt er mir diverse Bilder und findet es „muy raro“, dass ich keinerlei Bilder von meiner Familie habe – aber ich besitze ja gar keine! Wenigstens habe ich ein paar Postkarten von Esslingen. Bei seinen Bildern stellt sich dann auch heraus, dass ich bei Mormonen gelandet bin! Walter war auch schon als Missionar im Chaco (Nord-Paraguay). Ich nutze die Gelegenheit gleich zum Wäschewaschen und anschließend fahren wir gemeinsam per Bus nach Asunción ‚rein.

Die Hauptstadt Asunción

Die Fahrt in dem Stadtbus führt uns zunächst durch diverse Vororte, wobei einem durch das schlechte Pflaster und das unglaubliche-Gewackel des Busses schier die Gedärme aus dem Bauch geschüttelt werden. Endlich kommen wir auf die asphaltierte Hauptstraße und dann nach ASUNCIÓN ‚rein. Diese kleinste Hauptstadt Südamerikas und gleichzeitig einzige nennenswerte Stadt Paraguays mit 800.000 Einwohnern macht einen recht ordentlichen, sauberen Eindruck. Vorbei an diversen Plätzen und am Bahnhof (Baujahr 1860 und seitdem nichts geändert) steigen wir mitten im Zentrum bei der Post aus. Walters angebliche Freundin ist ein US-amerikanische Missionarin, die uns zentnerweise Post mitgegeben hat, die wir frankieren und expedieren müssen. Die Post ist auch sehr altmodisch, aber schön. Für jeden der verschieden großen und verschieden schweren Briefe gibt uns das Postfräulein die entsprechenden Briefmarken. Dann kleben wir alles auf. Dann folgt etwas, was in Deutschland unmöglich wäre: Beim letzten Brief fehlt eine Marke zu 100 Gs. (ca. ¼ des Portos). Walter geht zu dem Fräulein, erklärt sein Problem und kriegt anstands- und kostenlos eine neue Marke! So etwas gibt’s doch nicht. Da kann die Kasse ja nie stimmen. Dann werfen wir die Briefe ein, finden dabei die Marke wieder und geben sie ab – so läuft das hier. Ich bin begeistert!

Das Wetter ist herrlich: ca. 20°C warm, nicht mehr so feucht und schon lange dunkel (schließlich sind jetzt hier auf der Südhalbkugel gerade die kürzesten Tage des Jahres). Ich lade Walter zum Essen ein und sage zum Spaß, wir sollten ein preiswertes Lokal finden, wo es viel gibt und gut ist. Genau das kennt er auch: Das „Lido“ ist in ganz Asunción bekannt für seine günstigen Preise, Riesenportionen und gute Qualität. Ich esse drei riesige Scheiben herrlichen Rinderbraten mit Reis und Brot für 1 US-$. Das Lokal steht natürlich nicht im Reiseführer. Anschließend gehen wir durch Asunción, wo es ein unglaubliches Warenangebot gibt: Textil, Schuhe, Elektronik, überall gibt es nur das Beste vom Besten und soweit ich es beurteilen kann, sind die Preise auch günstig. Ganz ohne Schmuggel kann das meiner Ansicht nach nicht möglich sein, übrigens sind sämtliche Elektronik-Geschäfte (Hi-Fi, TV, Kameras, Taschenrechner etc.) fest in koreanischer Hand. Auch ist die Anzahl der in Paraguay lebenden Deutschen nicht unerheblich, und es gibt viele deutsche Lokale. Wir gehen auf ein Bier (Walter als Mormone trinkt O-Saft) ins „Tirol„, was ziemlich unmöglich ist. Dann geht’s per Bus heim.

Freitag, 27.6. Abends hat Walter mich eingeladen, noch eine Nacht bei ihnen zu bleiben. Er macht sich morgens um 6 Uhr gleich auf den Weg nach Clorinda, um seine Mutter im Kranken­haus zu besuchen. Ich schlafe etwas länger, „frühstücke“ (= Kakao + Kekse) und fahre dann per Bus nach Asunción ‚rein, um mich allein und in Ruhe dort umzusehen. Zuerst gehe ich zur Post, um Briefe aufzugeben und insbesondere, um zu fragen, ob für mich etwas da sei. Und tatsächlich: Ich kriege drei Briefe von meiner Freundin und einen von meinen Eltern. Damit ziehe ich mich in ein Lokal zurück und studiere sie in Ruhe. Anschließend mache ich mich – mit Briefen und sogar einem mitgeschicktem Buch – auf den Weg durch die Stadt. Es ist ziemlich warm und vor allem feucht, so dass ich gut schwitze. Ich gehe am Ufer des Rio Paraguay entlang, der hier eine riesige Bucht (Bahia) bildet. Unten, fast direkt in Wasserhöhe, liegen die Hütten der Armen, während oben sämtliche bedeutenden Gebäude zu finden sind: Kathedrale, Parlament, Regierungsgebäude und Präsidentensitz. Allesamt mit herrlichem Blick auf den Rio Paraguay. Das ganze Viertel ist aufgelockert mit diversen Parks etc., liegt aber in unmittelbarer Nähe der Haupteinkaufs- und -verkehrsstraße von Asunción.

Einfache Siedlung am Rio Paraguay in Asunción [Bild REM]

Zum Mittagessen – mein Frühstück mit drei Keksen war ja extrem minimal – kann ich im „Lido“ nichts kriegen, da es total überfüllt ist und die Leute schon Schlange stehen. So gehe ich ins „Munich„, einem echt bayrischen Lokal! Man sitzt in einem schattigen Biergarten, wo über einem Orangen und orchideen-artige Blumen wachsen. Speisekarte à la München, aber auf Spanisch übersetzt, blau-weiße Tischdecken und die Bedienungen tragen dem Dirndl grob nachempfundene Kleider. Ich bestelle einen Wurstsalat (ensalada de chorizo) und eine Halbe, die im Steinkrug serviert wird! Man merkt zweifellos, dass der deutsche Einfluss in Paraguay nicht minimal ist. Am Nebentisch sitzt eine argentinische Familie, mit der ich ins Gespräch komme. Um das zu erreichen, braucht man nur mit den Kindern etwas Spaß zu machen. Sie schwärmen mir viel von Deutschland und Europa vor, das sie vor drei Jahren besucht haben. Das große Wort führen die Oma und die Mutter. Der Opa sagt wenig, der Vater nichts!

Anschließend suche ich lange nach einem Geldwechsler, bis ich schließlich für 100 US-$ 67.200 Guaranís erhalte. Dann mache ich eine tolle Fahrt mit der Tramvía (Straßenbahn). Baujahr ist ca. 1905! Man kann die Fenster ganz aufschieben, den Kopf ‚raushalten, sitzt an einem Tisch und rumpelt so durch die geschäftigen Straßen von Asunción – das gefällt mir super, zumal der Fahrpreis nur 50 Gs (= 0,10 US-$) beträgt. An dem uralten Bahnhof, der ca. 1860 unter Präsident López erbaut und seitdem nicht geändert wurde, steige ich aus. Laut Walter ist die Eisenbahn „un desástre„, ich finde den Bahnhof super – aber schließlich brauche ich ihn nicht ständig zu benutzen. Leider ist das Innere abgeschlossen, weil heute kein Zug fährt. Wenig Glück habe ich am Touristenbüro, das laut Reiseführer um 15 Uhr öffnet, laut örtlicher Auskunft um 16 Uhr, aber um 16.30 Uhr immer noch geschlossen ist.

Der historische und gleichzeitig aktuelle Bahnhof von Asunción [Bild REM]

Um 16 Uhr bin ich mit Walter im „Tirol“ verabredet, aber um 16.45 Uhr ist er natürlich immer noch nicht da. So setze ich mich allein in das Lokal, das mir wenig gefällt und trinke einen 0-Saft. Ich sitze noch keine fünf Minuten an der Theke, da kommt so ein halbbesoffener junger Deutscher auf mich zu und fragt, ob ich auch Deutscher sei. Trotz anderer Vorsätze mag ich das nicht verneinen, und er bittet mich mit an seinen Tisch. Dort schüttet er mir sein Herz aus: Er sei seit 2½ Jahren in Paraguay, die Landwirtschaft sei gleich schief gegangen, aber er habe rechtzeitig verkauft. Jetzt baue er Yachten bei Pte. Stroessner, aber da habe er auch keinen guten Absatz. Im Übrigen sei ganz Paraguay Sch…, die Einheimischen desgleichen und er wolle zurück nach Deutschland. So und ähnlich erzählt er mir. Dann gesellt sich ein ebenso besoffener Ami dazu (Walter ist immer noch nicht da) und es geht um Grundsätzlicheres: Deutschland, NATO, Sowjetunion, Haig, Bastian, Grüne etc. Alles sind Themen, über die ich gerne und stundenlang diskutieren kann, aber nicht hier, nicht jetzt und nicht mit denen! Schließlich kommt Walter, der solange im Krankenhaus war, und der sich noch mit dem Ami unterhält. Währenddessen erzählt mir der Stephan etwas von Charles Bukowsky und Savatore Dalí, die schon in seinem Haus in Kaiserslautern gewohnt hätten. Da reicht’s mir langsam und wir gehen endlich.

Walter ist wegen seiner Mutter recht niedergeschlagen, will aber auf keinen Fall, dass ich mich deshalb verziehe (will ich jetzt nachts auch nicht). Wir gehen im „Lido“ essen und wollen dann nach Hause. Vorher treffen wir noch ein paar Mädchen, mit denen wir noch etwas trinken gehen. Dann fahren wir wirklich mit dem Bus heim und lassen uns dabei noch ordentlich durchschütteln. Zu Hause gibt’s noch Sprudel, TV und Dusche, dann bin ich froh, so schön und sauber schlafen zu können.

Sonnabend, 28.6. Morgens stehen Walter und ich gemeinsam auf. Während er ins Krankenhaus will, fahre ich nach Villarica weiter. Er lädt mich aber herzlich ein, bei meiner Rückkehr nach Asunción, wohin ich aus straßentechnischen Gründen auf jeden Fall wieder muss, wieder bei ihm zu übernachten. Die Gastfreundschaft ist wirklich beeindruckend. Mit zwei verschiedenen Stadtbussen erreiche ich in einer 1½-stündigen Tour endlich das Busterminal. Fahrten mit dem Stadtbus dauern immer so lange, weil sie wirklich an jeder Ecke anhalten – es ist oft zum Verzweifeln. Der Busbahnhof ist riesig und nur mit etwas Mühe finde ich heraus, wann und wo ein Bus nach Villarica abfährt. Eine halbe Stunde später sitze ich schon drin und dampfe los.

In Villarica werden früh die Bürgersteige hochgeklappt

Ich unterhalte mich mit meinem Nebensitzer, einem zwölfjährigen Jungen, der sich brennend für europäische Autos interessiert, aber auch sonst ganz gut Bescheid weiß. Wir fahren durchs leicht hügelige Country, wo alle Weiden mit Kühen sämtlicher „Bauarten“ bevölkert sind. Im Hintergrund sind einige Berge zu sehen, die eine Besonderheit im ansonsten absolut flachen Paraguay darstellen. Gegen Mittag kommen wir schließlich in VILLARICA an, wo mich bei Hitze und Feuchtigkeit ein orientalisches Straßenleben empfängt. Im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern habe ich in Paraguay oft das Gefühl, im Orient zu sein und hier in Villarica ganz besonders. Zig barfüßige und mit kurzen Hosen bekleidete Jungs verkaufen Zeitungen, überall kocht’s und riecht’s gut, Leute mit Bergen von Taschen, Tüten, Säcken und Kartons sitzen da und warten auf den Bus. Das Ganze macht in der Wärme einen recht locker-leichten Eindruck. Ich komme nicht gleich als erster aus dem Bus und als ich draußen bin, liegt mein Rucksack schon herrenlos auf der Straße – von Klauen keine Spur. Um zwei Ecken habe ich schon eine „hospedaje“ gefunden („alojamiento“ versteht hier kein Mensch, ebenso wenig wie „carro„, „bus“ oder einige andere Wörter). Ein Zimmer mit vielen Moskitos, mit einem Moskitonetz (mosquitero) und einem luxuriösen baño común kriege ich für 2000 Gs. (3,50 US-$). Dann gehe ich durch Villarica, einem netten Ort mit vielen Geschäften, 20.000 Einwohnern (für Paraguay ist das eine große Stadt) und tropischem Flair. Ich komme an einer sehr unparaguayischen Kirche aus Natursteinen vorbei und bin dann schon ob meines europäisch-andinischen Tempos so ins Schwitzen gekommen, dass ich mich im Schatten eines Parks erst einmal trocknen lassen muss. Wenn es hier im Winter schon so heiß ist, möchte ich hier im Sommer nicht sein.

Kirche im Zentrum von Villarica [Bild REM]

Zurück im Hotel lege ich mich erst einmal siestamäßig aufs Bett und sehe dann um 16 Uhr mal weiter. Das ist aber eigentlich schon zu spät, denn um 17 Uhr beginnt es langsam dunkel zu werden und eine halbe Stunde später ist es picke-duster. Das Anormale ist nämlich, dass Paraguay westlicher liegt als der Bereich Argentiniens, den ich besucht habe, trotzdem muss man die Uhr um eine Stunde zurückstellen, wenn man von Argentinien nach Paraguay reist, dadurch ist es hier schon so relativ früh dunkel. Um 18 Uhr hat kaum noch ein Geschäft offen, und wenn man um 20 Uhr noch nicht gegessen hat, gibt’s nichts mehr! Ungefähr gleich anschließend werden dann die Bürgersteige hochgeklappt – ein anständiges, solides Leben! Meine hospedaje ist gleichzeitig Restaurant (wie oft Paraguay), und die Wirtsleute sind sehr nett. Ich unterhalte mich eine ganze Zeit mit ihnen und hole dann mein Schreibzeug. Dabei kriege ich einen Schlag, denn mein Zimmer wird von mindestens 100 Moskitos bevölkert! Entsetzt wende ich mich an meine Wirtin, die sagt, mit Moskitonetzt sei das kein Problem. Das Ding hängt von der Decke runter und wird – die Wirtin zeigt es mir – an allen Seiten des Bettes unter die Matratze gestopft, bis auf ein Schlupfloch, das man dann von innen zumacht – hoffentlich nutzt das auch. Später kriege ich ein gutes Abendessen von ihr serviert (Riesenportion Rindfleisch, Maniok = Yuka und Salat, der hier unangemacht und gut wie in Italien und nicht wie in Argentinien serviert wird).

Lokaler Transport in Paraguay [Bild REM]

Sonntag, 29.6. Die Nacht überstehe ich unter meinem Netz tatsächlich ohne Stiche, dafür gibt es nachts ein Mordsgewitter (mein Handtuch hängt natürlich draußen!), das dann in einen ostfriesischen, d.h. paraguayanischen Landregen mit Temperaturen von 15° übergeht – so eine Sauerei. Das sei nichts Besonderes und könne morgen schon wieder anders sein, bedeuten meine Wirtsleute lapidar. Aber dadurch lasse ich meine Pläne nicht beeinflussen. Nach meinem Reiseführer und auch nach meinem Wirt solle ich unbedingt nach Colonia Independencia fahren. Dieses ist eine der vielen Kolonien in Paraguay, die von Deutschen gegründet wurden und bis heute von ihnen in deutschem Stil geführt werden. Ich nehme einen Bus dorthin und komme nach einer Stunde in der 35 km entfernten COLONIA INDEPENDENCIA an. Als ich aussteige, gießt es natürlich immer noch und ich flüchte gleich in eine Heladería, wo ich eine Coca trinke. Dieses „Dorf“ ist eigentlich gar keines, sondern nur die Ansammlung einer Handvoll Häuser, denn der Rest liegt verstreut im Umkreis. Schon auf der Fahrt durch den Distrikt, der zur Colonia gehört, fiel Deutsches auf: „Dorfschänke 6 km“ oder „Haus Panorama mit guter Küche“ hatte ich gelesen. In der Heladería heißt es auf meine Frage, hospedaje gäbe es bei „La madre del Señor Burg„. Das ist genau das, was ich suche, denn dort waren die vom Reiseführer auch gewesen. Das Haus läge eine cuadra weiter. Aber was ist denn eine cuadra im Urwald? So laufe ich im strömenden Regen, zwischen Kühen und im Schlamm herum, frage noch zweimal und komme dann zu einem blonden Mädchen. Sie fragt mich gleich, ob ich deutsch spräche und sagt dann, ihre Oma wohne im nächsten Haus und dort könne ich auch wohnen; aber in einem deutsch, wie es in Hannover nicht besser gesprochen wird!

Bei den deutschen Auswanderern in Colonia Independencia geht’s rustikal zu

So komme ich zu Oma Burg ins Haus. Es sind noch drei andere Gäste da, die mich gleich in perfektem Deutsch ansprechen, als ob es hier nirgendwo spanisch gäbe. Dann kommt die Oma ‚rein. Sie ist bestimmt schon 80 Jahre alt, spricht auch 100%ig deutsch und macht einen sympathischen, wenn auch etwas schmuddeligen Eindruck. Das Haus ist schon recht alt und sieht ungefähr aus wie eine alte Dorfkneipe im Elsass: Fachwerk, niedriger Raum, ganz kleine Fenster, recht dunkel, verraucht, aber gemütlich. Der Unterschied zu paraguayischen Kneipen ist, dass nicht alles offen ist, kein Neonlicht, keine Poster an den Wänden, keine laute Musik. Die Oma ist offensichtlich in der Küche beschäftigt, während die anderen drei mich gleich über Deutschland interviewen. Tschernobyl und Atomkraft sind das Hauptthema. Die drei sind zwischen einem und 15 Jahren in Paraguay und begeistert vom Gebotenen bis bereit, schnellstens nach Deutschland zurückzukehren. Es ist ein junges Mädchen dabei, die aus Freiburg kommt. Sie zeigt mir mein Zimmer. Dafür muss man über den verregneten, matschigen Hof, wo es von Hühnern, Hunden, Katzen und Küken wimmelt. Das Zimmer ist einfach und einigermaßen sauber. Das Klo ist noch einmal um die Ecke und ziemlich unmöglich (bisher war alles hier in Paraguay besser und sauberer!). Das Mädchen ist übrigens Friseuse und zum Spaß sage ich, sie könne eigentlich meine Haare schneiden. Daraus macht sie nicht viel Aufhebens, holt Handtuch und Schere von der Oma und schon wird aus der Kneipe ein Friseursalon. So kriege ich endlich wieder geschnittene Haare. Kurz danach gibt’s Mittag (heute ist Sonntag): Putenbraten, Spätzle mit Sauce und Maniok, bis auf letzteres recht deutsch.

Kücheneingang von ‚Oma Burg‘ in Colonia Independencia [Bild REM]

Das Mädchen, das mit dem jüngeren Mann verheiratet ist, fährt dann per Bus heim, weil bei ihnen eingebrochen worden ist (darüber wird die Oma mir noch näher Bescheid geben). Dafür erzählt mir ihr Mann – der schon lange in Paraguay wohnt – allerhand über die Geschichte der Indios, z.B. dass das Inkareich auch bis Paraguay ging, hier nur noch nichts ausgegraben wurde, dass die Inka-Herrscher Weiße waren (Nachfahren von Wikingern) u.v.a.m., was für mich neu ist – wer weiß, was davon stimmt? Dann geht auch er. Da es endlich nicht mehr regnet, mache ich mich ‚mal auf den Weg durch die Kolonie (soweit per pedes erreichbar). 300 m weiter als mein „Hotel“ endet die asphaltierte Straße und man wird direkt mit einem der Hauptprobleme Paraguays konfrontiert: Sowie es hier etwas mehr regnet, sind sofort alle Straßen unpassierbar, die nicht asphaltiert sind – und Asphalt ist rar! Die Straße besteht nur noch aus einem rötlichen Schlamm, in dem nichts mehr geht. Zu Fuß kann man noch am Rande im Gras gehen, aber Schuhe und Strümpfe werden natürlich pitschnass. Trotz oder gerade wegen des Regens ist die tropische Kulisse natürlich sehr schön. Jeder Garten quillt von gefüllten Orangen- und Pampelmusenbäumen, von Bananenstauden und zig anderen Bäumen und Pflanzen über.

Das ganze Gebiet ist von Häusern und Hütten zersiedelt, wobei die größten den Deutschen und die kleineren den Paraguayanos gehören. Überall wird übrigens TV geschaut, weil im Moment gerade das Endspiel der WM, Argentinien-Deutschland, kommt, aber ich bin froh, endlich mal nicht in der Bude sitzen zu müssen. Außerdem hat die Oma gar kein Fernsehgerät. Nach zwei Stunden bin ich mit völlig vermatschten Schuhen wieder zurück und lege mich etwas aufs Bett.

Ochsenkarren wären hier das beste Fortbewegungsmittel [Bild REM]

Als ich mich von meiner Siesta erhebe, schifft es natürlich schon wieder. So bleibt mir nichts übrig, als mich wieder in die Kneipe zu hocken. Eigentlich will ich etwas schreiben, aber dazu komme ich nicht, denn Oma Burg und Harald, ein ca. 50jähriger Mann, erzählen mir alles und jedes über sich, Colonia Independencia und Paraguay. Hier eine – möglichst kurze – Zusammenfassung dessen, was ich mir merken konnte: Die Kolonie hat ca. 5.000 Einwohner, wozu Deutsche und natürlich Paraguayanos als deren Arbeitskräfte gehören. Oma Burg wohnt schon seit über 50 Jahren hier und kommt ursprünglich aus dem Schwarzwald. Ihre beiden Söhne, die hier eine große Landwirtschaft und den Laden betreiben, scheinen hier die Chefs zu sein. Insbesondere aus Schilderungen von dem Harald schließe ich, dass das Leben hier wohl doch nicht so unproblematisch ist. Er wohnt seit drei Jahren hier und hat Landwirtschaft betrieben, aber recht erfolglos, da ihm einerseits sehr viel gestohlen wurde (natürlich von „Paraguayern“, wie hier alle sagen) und es andererseits keine Unterstützung und Hilfe von den etablierten Deutschen gab. Deshalb will er möglichst schnell zurück nach Deutschland. Angeblich ist es sehr problematisch hier mit den „Paraguayern“ auszukommen, sie sind faul, unzuverlässig, dreckig und klauen. Meiner Ansicht nach sind die Deutschen hier reine Rassisten: Mir wurde noch nichts geklaut, bei allen Paraguayanos war es sauberer als hier bei den Deutschen und alles ist hier recht pünktlich und genau. Aber das geht noch weiter: Angeblich hat man vor Gericht als Deutscher keinerlei Chancen gegen einen „Paraguayer“ und wenn man mal einen hinter Schloss und Riegel bringt, muss man ewig mit seiner Rache, d.h. dem Tod rechnen. Ich kann das alles nicht recht glauben, halte aber meine Klappe. Der eine junge Mann, der schon fort ist, hat angeblich dazu beigetragen, dass ein „Paraguayer“ einen Deutschen erschossen hat, so dass der „Paraguayer“ jetzt sitzt. Seitdem wird bei ihm angeblich immer eingebrochen, schläft er oft bei der Polizei und ist sein Leben schon lange in Gefahr. Für 50.000 Gs. (100 US-$) kann man jeden umbringen lassen. So etwas gibt’s doch gar nicht! Die Stories werden aber noch toller. Angeblich gibt’s hier Frauen, die einen mit einem bösen Blick und anderem Spuk und Zauber belegen können. Das haben die Oma und Harald schon persönlich bei Freunden erlebt! Solche Stories erzählen sie mir den ganzen Abend, während das Haus gut verriegelt ist, es draußen total dunkel ist und man sich dort bei minimaler Beleuchtung zum Pinkeln tasten muss. Also mir ist schleierhaft, wie man 50 Jahre in einem Land wohnen kann, sich nicht als dessen Einwohner bezeichnet, im Gegenteil sogar von dessen Einwohnern nichts hält und deren Sprache nur bedingt spricht. Wer sich so (vergleiche Türken in der BRD) bei uns verhält, ist sicherlich kein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft. Aber ich halte meinen Mund, denn das kapieren diese Leute sowieso nie – und ich habe ‚mal wieder neue Erfahrungen gemacht.

Montag, 30.6. Morgens regnet es wieder schlimm. Nach dem Frühstück (mit guter Hausmacher-Marmelade und Käse) empfiehlt mir die Oma, doch in den nahen Laden ihres Sohnes zu gehen, um den auch kennenzulernen. Dort werde ich auch sehr nett aufgenommen und zu einem Getränk eingeladen. Die Leute (ca. 45 Jahre alt) sprechen perfekt Badisch, Deutsch, Spanisch und Guaraní, bezeichnen sich aber als Deutsche. Der Laden ist wirklich ein kleines Kaufhaus: über Lebensmittel, Stoffe, Schuhe, Seile, Sättel, Zaumzeug, Kochtöpfe, Werkzeug zu Nägeln und Stacheldraht gibt es wirklich alles. Unglaublich. Die meisten Leute kommen per Pferd angeritten, viele haben aber auch Autos (meist mit Ladefläche).

Hier versteckt sich der Einkaufs-Laden [Bild REM]

Zur Enttäuschung der Oma kündige ich dann meinen Abschied an, denn so gut gefällt’s mir hier auch nicht. Da erst um 12.30 Uhr ein Bus geht, verbringe ich den Vormittag schreibend bzw. mich unterhalten lassend. Dann gibt’s noch ein gutes Mittagessen und im wirklich strömenden Regen muss ich ‚raus, um den Bus nach Villarica zu kriegen. Zum Glück gibt es einen kleinen Unterstand, den ich mit Mühe „kuhfrei“ halten kann, und wo ich auf einem Stein inmitten des strömenden Wassers stehe.

Das geht über eine halbe Stunde so, bis endlich der Bus kommt. Gegen 14 Uhr bin ich dann wieder in Villarica, wo ich in meinem alten Hotel übernachte. Hier regnet es natürlich genauso, so dass ich am Nachmittag nicht viel machen kann. Zwischen den Schauern gehe ich etwas durch die Stadt, ansonsten schreibe und lese ich. Es stürmt auch ziemlich, so dass die Orangen und Pampelmusen von den Straßenbäumen fallen und überall ‚rumliegen. Aber keiner hebt sie auf! In meinem Hotel ist es mir zu kalt zum Essen, denn trotz der Temperatur von nur 10°C macht kein Mensch Türen und Fenster zu. So gehe ich woanders hin. Das Essen ist gut und ich trinke ein „Chopp Bremen“ dazu, denn so heißt das Bier hier. Kurz bevor ich gehen will, fällt der Strom total aus. Drinnen gibt es Gaslampen als Ersatz, aber auf der Straße ist es sooo dunkel, dass man echt die Hand vor Augen nicht sehen kann. So ist es unmöglich, dass ich mein Hotel finde! Die Wirtin beruhigt mich zwar, hier sei es nicht gefährlich im Dunkeln, aber ich finde den Weg nicht. Nach ½ Stunde ist’s aber wieder hell und ich kann zurück.

Gauchos machen uns den Weg inmitten ihrer Kuhherde frei

Dienstag, 1.7. Morgens ist es immer noch eiskalt (10°C), aber es regnet wenigstens nicht mehr. Um ½ 9 Uhr kriege ich einen Bus, der mich nach Asunción bringt, denn an einen Direktbus von Villarica nach Encarnación ist bei diesen Straßenzuständen nicht im Entferntesten zu denken – der würde eine Woche brauchen – nach drei Stunden bin ich wieder in Asunción und kriege dort innerhalb von 10 Minuten einen Bus, der auf der Asphaltstraße hach Encarnación geht – ich habe nicht einmal Zeit, ein bisschen zu essen. Jetzt sitze ich in einem Luxusbus, der mich die 365 km innerhalb von sechs Stunden befördern soll; das ist für südamerikanisch und insbesondere paraguayische Verhältnisse schier unglaublich. Der Bus ist sehr leer und ein „directo„, d.h. er hält nicht auf jedes Winken am Straßenrand an, sondern nur in einigen wenigen, wichtigen Städten resp. Dörfern.

Zunächst geht’s durch die diversen Vororte von Asunción und dann in die Countryside: Viele Kinder, Ochsenkarren (carreta), Schlammwege, Pferdefuhrwerke, gefüllte Orangenbäume, kleine Bauernhütten und Einfahrten zu großen Estancias prägen das Bild. Dann wird es trockener, und man sieht nur ab und zu eine Kuhherde. Später kommen jedoch diverse Flüsse, die alle über die Ufer getreten sind, jedoch ohne die Brücken zu gefährden oder zu stören. Hier ist offenbar ideales Weideland für große Herden von Rindviechern, denn diese bevölkern die Gegend bis zum Horizont. Vom Bus aus mache ich ein paar schöne Bilder der palmenbestandenen Weiden mit Rindern aller Gattungen: Schwarzbunte, Braune, mit riesigen Hörnern, Graue mit Mordsnacken – schade, dass ich (fast) nichts davon verstehe. Einmal stecken wir mit unserem Bus inmitten einer Herde Rindviechern und müssen warten, bis die berittenen Gauchos sie auf die Seite getrieben haben – das ist Paraguay!

Die Gauchos treiben ihre Rinder über die Straße [Bild REM]

Gegen Halbzeit machen wir in einem Restaurant am Rio Tebicuary Station, wo ich in meinem „Hungerwahn“ nur eine Fischsuppe bestelle. Sie ist lecker, aber vielleicht ein Fehler (s.u.). Wir kommen durch einige Ortschaften, die alle einen sehr netten, sauberen Eindruck machen. Vielleicht mache ich in einer davon auf dem Rückweg Station. Ca. eine Stunde bevor wir da sein sollen, biegt der Busfahrer nach einem Stop von der Hauptstraße ab und fährt in einen Seitenweg. Der Matsch und Schlamm lassen mich gleich das Schlimmste befürchten und wir sind noch keine 200 m weit, da ist es passiert: Wir sitzen mit unserem schönen Bus fest, und es geht nicht mehr vor und nicht mehr zurück. Während ich mit längerem Aufenthalt rechne und zu schreiben beginne, fangen der Busfahrer und einige Eifrige (ich als Gringo halte mich natürlich ‚raus, auch wenn’s mir schwerfällt) an, den Schlamm wegzubuddeln, Holz unterzulegen etc. Aber nichts hilft. Nach einer guten halben Stunde holen sie dann einen Mordstraktor, der uns wie nichts ‚raushilft. Ich komme mir vor wie in dem Witz, wo der Bauer den Städter aus der Schlammstraße zieht und dafür DM 20,– kriegt. Der Städter sagt freundschaftlich: „Hier habt Ihr wohl Tag und Nacht mit Rausschleppen zu tun?“ „Nein“ antwortet der Bauer, „nachts nicht, da wässern wir!“ Wer weiß, was hier nachts passiert? Wir fahren jedenfalls weiter und sind einen km später wieder auf der Hauptstraße. Ich möchte nur wissen, warum wir diese überhaupt verlassen haben. Ich glaube, der Fahrer wollte nur seiner Oma winken, oder so ähnlich.

Am Ufer des Rio Tebicuary [Bild REM]

In Encarnación rächt sich die gute Fischsuppe von gestern ganz böse

Eine Stunde später, es ist schon lange dunkel, sind wir dann in ENCARNACIÓN. Am Busbahnhof frage ich den Fahrer nach Centro und Hotel, so dass er gleich einen Jungen schnappt, der mich zu einem nahen Hotel führt und dafür 100 Gs. von mir kriegt. Das Hotel ist einfach, aber nett und irgendwie lasse ich mich überreden, ein Zimmer mit „baño privado„, also mit eigenem Bad, zu nehmen (ich werde noch froh drum sein). Es ist erst 19 Uhr, so dass ich noch einen Gang durch die Stadt mache. Dabei habe ich ab und zu ziemlich Bauchschmerzen. Dann gehe ich in mein Hotel, das auch ein Restaurant hat, esse zu Abend und trinke sicherheitshalber kein kaltes Bier, sondern temperierten Wein. Anschließend gehe ich schlafen, d.h. ich will es, aber daraus wird nichts. Fürchterliche Bauchkrämpfe lassen mich keinen Moment zur Ruhe kommen. Ich genieße aber nicht nur diese, sondern auch Durchfall und weiteres, so dass ich „alle Hände voll“ zu tun habe. Ein befreundeter Arzt hat mir zwar noch in Deutschland tolle Zäpfchen gegeben, die gegen Bauchkrämpfe helfen sollen, aber als ich zwischen zwei Krämpfen die Beschreibung lese, verzichte ich lieber drauf. Denn was bei dem Zeug noch alles passieren kann mit Schock, Lähmung etc. ist mir viel zu gefährlich. So lasse ich mich lieber die ganze Nacht alle halbe Stunde von einem Krampf wecken. Ich habe ja schon öfter Durchfall und dergleichen gehabt, aber so schlimm war’s noch nie!

‚Downtown‘ von Encarnación [Bild REM]

Mittwoch, 2.7. Zunächst bleibe ich mal im Bett, denn die Bauchkrämpfe machen überhaupt keine Anstände, besser zu werden. Denn alle Stunde geht’s wieder los. Zum Glück ist das Zimmer recht groß und ganz sauber, so dass ich es gut aushalten kann. Ich weiß zwar nicht genau, woher der ganze Mist kommt, aber ich führe es auf die Fischsuppe vom Mittag zurück. So verbringe ich den Vormittag mit Lesen, Dösen und Zähne zusammenbeißen. Um 14 Uhr habe ich dann die Nase voll und stehe auf, obwohl ich ab und zu immer noch einmal einen Krampf habe. Der Wirt des Hotels ist ganz nett und ihm schildere ich meinen Kummer. Er kümmert sich auch drum, dass ich Kamillentee kriege. Dazu esse ich trockenes Brot.

Später mache ich mich auf die Beine und gehe zum Hafen ‚runter. Der untere Teil von Encarnación liegt direkt am Rio Paraná, einem weiteren, riesigen Urwaldfluss, der die Grenze zwischen Paraguay und Argentinien bzw. Brasilien bildet. Auf der anderen Flussseite liegt gleich die argentinische Stadt Posadas, die man gut sieht. Um dieses Bild aufzunehmen, klettere ich übrigens auf den Zaum eines Hauses, das sich später als das Haus von Präsident Stroessner ‚rausstellt. Nur gut, dass es keiner gesehen hat! Bevor ich am Hafen bin – zwischendurch muss ich ein- oder zweimal wegen meines Bauches stehenbleiben und tief Luft holen – komme ich durch ein sehr lebhaftes „Handel- und Wandelviertel“, das einer orientalischen Stadt wieder alle Ehre machen würde. Eine Unzahl von Geschäften säumt die Straßen, die wieder alles anbieten, was das Herz begehrt. Insbesondere gibt es Textilien, Elektronik und Spirituosen. Wahrscheinlich hauptsächlich für die Argentinier, die hier billig einkaufen können, da Paraguay keine Einfuhrzölle erhebt. Es gibt z.B. sämtliche französischen Cognac- und englische Whisky-Sorten. Allerdings kostet eine Flasche Remy Martin immer noch DM 36,–, dafür kann ich sie bei Coop in Deutschland auch kaufen!

Blick von Encarnacón über den Rio Paraná nach Posadas in Argentinien [Bild REM]

Unten am Hafen patrouilliert überall die Marine des Binnenstaates Paraguay! Eine Brücke über den Paraná von 1300 m Länge ist im Bau und ¾ fertiggestellt, aber z.Zt. ist man noch auf Fähren angewiesen. Eine Riesenschlange von Menschen steht an den Zoll-Abfertigungsschaltern, denn auf der anderen Seite ist ja schon Argentinien. Dazwischen springen Händler ‚rum, bei denen man noch seine letzten Flaschen Whisky oder letzten Stangen Marlboro kaufen kann. Helgoland ist dagegen nichts. Um 17.30 Uhr ist es schon wieder dunkel und alle Läden machen zu. Ich gehe noch etwas spazieren, schreibe dann und esse später zu Abend. Sicherheitshalber bestelle ich nur Reis mit Sauce und eine Coca-Cola.

Anleger der Fähre ins gelobte Land Argentinien auf der anderen Seite des Rio Paraná [Bild REM]

Menschenschlange beim paraguayischen Zoll in Encarnación [rechts ein ‚Fusca‘ (Käfer) aus brasilianischer Produktion] [Bild REM]

Die Jesuiten-Reduktion „La Santísima Trinidad de Paraná“

Donnerstag, 3.7. Diese Nacht über schlafe ich sehr gut und bin wohl wieder einigermaßen fit – aber mehr Zeit kann ich auch nicht mehr vergammeln. Nach dem Frühstück fahre ich per Bus nach TRINIDAD, wo ich nach einer Stunde ankomme. Bei diesem Dorf liegt die bekannteste Jesuiten-Reduktion Paraguays, ‚La Santísima Trinidad de Paraná‘ (Die Allerheiligste Dreifaltigkeit zu Paraná), die übrigens knapp 10 Jahre nach meinem Besuch zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wird. In Paraguay und den umliegenden Ländern haben die Jesuiten von Mitte des 16. Jh. bis zu ihrem ‚Rausschmiss‘ im Jahre 1767 die Indianer missioniert, ausgebildet und gegen Sklavenjäger verteidigt. Da die Jesuiten sehr selbstherrlich agierten, ihre eigene Gerichtsbarkeit hatten und nur an die weit entfernte Spanische Krone berichteten, wurden die Jesuiten und ihre Einrichtungen 1767 aus Angst vor dem Staat im Staate verboten. Danach verfielen die Missionen völlig und diese bei Trinidad wird seit einigen Jahren wieder renoviert.

Ich muss noch zwei km laufen – übrigens scheint seit gestern wieder die Sonne und es herrschen sommerliche Temperaturen. Der Eintritt ist frei. Zuerst komme ich an die Ruinen der Indianer-Häuser, „Casa de Indios“ steht überall dran. Baumaterial sind bzw. waren relativ große, nur teilweise behauene rote Steine, wie sie überall zu finden sind. Diese Häuser sind z.T. nur in den Fundamenten bzw. bis zu einer Höhe von ein oder zwei Metern erhalten. Trotzdem stehen noch einige Bogen und man kann die Grundrisse erkennen. Ein „Casa de Indio“ ist ca. 5 x 35 m groß und davon gibt es einige, die bereits renoviert sind, eines ist gerade in Arbeit. Viel anders als hier jetzt gearbeitet wird, kann es damals auch nicht zugegangen sein: Stein für Stein werden die schiefen von Pflanzen überwucherten Wände abgebaut, die Steine gesäubert und per Flaschenzug einzeln wieder hochge­zogen und mit wenig Zement befestigt. Seinerzeit wurde natürlich kein Zement eingesetzt. Das alles erklären mir die Arbeiter, die ich interviewe.

Die Jesuitenreduktion La Santísima Trinidad de Paraná [Bild REM]

Aufbauarbeit in der Mission mit archaischen Methoden [Bild REM]

[Bild REM]

Dann gelange ich zur Hauptkirche, die auch nur noch aus renovierten Fragmenten besteht. Aber diese lassen erahnen, mit wieviel Mühe und Arbeit hier ehedem geschafft wurde. Die behauenen, roten Steine tragen viele Ornamente und Verzierungen, die noch heute sehr gut zu erkennen sind. Der Altar fehlt, die Sakristei blieb bei der Renovierung eines neuen Daches erhalten, so dass hier jetzt alle Fundstücke in Regalen aufbewahrt werden. überall steht „Se mira, pero no se toca!“ (Angucken, aber nicht anfassen!). In den Regalen stehen und liegen noch zig Köpfe von Heiligen und Engel, sowie hunderte von Bruchstücken verschiedener Ornamente. Es gibt also noch Einiges zu tun. Weitere Bereiche dieser Mission, die noch völlig unrenoviert und verschüttet daliegen, bieten sicherlich noch einige Jahre Arbeit. Aber der Besuch – ich bin der einzige Tourist – ist sehr interessant und ich kann mir wirklich etwas unter den Jesuitenmissionen vorstellen, von den man immer so viel hört.

Die Ruinen der zugehörigen Jesuitenkirche [Bild REM]

Das sehr gut renovierte Kichenportal [Bild REM]

„Tirol del Paraguay“ unter deutscher Fuchtel

Dann will ich zurück in Richtung Encarnación, aber nur bis zum Hotel „Tirol del Paraguay„, wo man gut essen und schwimmen können soll. In Ermangelung eines Busses gehe ich erst einmal los. Aber meine Hoffnung, dass schon bald ein Bus kommen wird, der mich mitnimmt, stellt sich als trügerisch ‚raus. Wenn ich im Bus sitze, halten wir andauernd an, wenn ich aber einen anhalten will, wird nur abgewunken – Sauerei. Außerdem ist die Strecke weiter als ich dachte. Schließlich komme ich nach 13 km Fußmarsch in tropischer Sonne endlich an. Allerdings bin ich dann von dem ganzen Schuppen recht enttäuscht. Das geht los mit lauter Vorschriften und Verboten: „Minimaler Verzehr 500 Gs.“, „Baden 500 Gs.“, „Getränke mitbringen verboten“, „Essenszeiten: Frühstück 7:00 – 9:00, Mittag 12:00 – 14:00, Abend 19:00 – 21:00“, außerhalb dieser Zeiten 24% Aufschlag! Wenn ich so etwas lese, kotzt es mich gleich an. Das kann sich nur ein deutscher Wirt einfallen lassen. Dann gibt’s nur ein Menu, das zwar gut, aber viel zu viel ist. Außerdem ist der Ober doof. Zum Schluss kommt noch hinzu, dass das Wasser des herrlich gelegenen Schwimm­bades – in einen Hang inmitten von tropischen Pflanzen – saumäßig dreckig ist. Das liegt an dem Regen der letzten Tage, da das Bad von Quellwasser gespeist wird. So kann ich also auch nicht baden. Dann nehme ich gleich einen Bus, der mich nach Encarnación zurückbringt.

Der Pool im ‚Tirol del Paraguay‘ [Bild REM]

Dort verbummele und vertue ich den ganzen Nachmittag, ohne an meine Jeans zu denken, die ich beim Schneider zum Flicken habe und bis 18:30 Uhr abholen muss. Stattdessen kaufe ich mir ein Busticket für den 6-Uhr-Bus am nächsten Morgen, um nach Asunción zu fahren. Um 19:30 Uhr – ich habe gerade Essen bestellt – fällt mir meine Hose ein! (Ich habe nichts zu tun, außer an meine Hose zu denken, nicht einmal das funktioniert.) Ich bestelle mein Essen ab, lass‘ mein Bier stehen und düse zur Schneiderei: Die ist natürlich zu und macht am nächsten Morgen bestimmt nicht vor 6 Uhr auf. Neben dem Geschäft steht eine Frau, die mir auf meine Frage hin erklärt, wo der Inhaber wohnt. Also gehe ich dorthin. Die Gegend wird immer obskurer, keine Straßenbeleuchtung mehr, kein Pflaster, nur Löcher und Matsche. Zweimal muss ich noch fragen, dann habe ich das Haus gefunden und klopfe. Die Leute sind sehr nett und wir verabreden uns für eine Stunde später bei der Schneiderei. So esse ich schnell und gehe dann hin. Ich entschuldige mich noch dreimal und schenke ihnen eine Schachtel deutsche Marlboro. So kommen wir ins Gespräch und erst über ½ Stunde später komme ich mit heiler Hose (Kosten für einen Flicken 350 Gs. = DM 1,20) dort weg. Ein Glück, dass das noch geklappt hat!

Freitag, 4.7. Mein netter Hotelwirt hatte mir angeboten, mich um 5:15 Uhr zu wecken, damit ich auch meinen Bus um 6 Uhr kriege. Aber – erwartungsgemäß – wache ich um 5 Uhr schon selbsttätig auf und – ebenso erwartungsgemäß – werde ich nicht rechtzeitig geweckt, sondern erst um viertel vor sechs. Es wäre ja auch ein glattes Wunder, in Südamerika zur rechten Zeit geweckt zu werden. So bin ich pünktlich am Bus, der auch fast pünktlich wegfährt. Mein Bus ist kein „directo“ nach Asunción, sondern einer, der überall anhält, laut Fahrer ein „semi-directo„, weiß der Teufel, was das wieder ist. Aber mit diesem Bus ist die Fahrt weitaus interessanter als mit einem Directo und die Sitze sind sogar „reclinable“ (rückklappbar), wie hier immer die große Werbung heißt. Wir halten in vielen Dörfern, es steigen zig interessante Typen ein und kurz danach wieder aus. So gibt es immer ‚was zu gucken. Aufregen kann mich allerdings, dass der Bus – wie alle anderen auch – in den Dörfern alle paar Meter anhalten muss. Es gibt ja außer den Terminals sowieso keine festen Haltestellen. Aber dann stehen irgendwo Leute, der Bus hält, sie steigen ein und er fährt wieder an. Aber nur 10 Meter weit, denn dort stehen die nächsten und winken. Ich verstehe nicht, dass die nicht ‚mal ein Wort miteinander reden, dass sie auf denselben Bus warten. Aber weitere Probleme habe ich zum Glück nicht.

Um 13:30 Uhr kommen wir in Asunción an – die Fahrt dauert nur eine Stunde länger als mit dem Directo. Gut, wie ich mich mittlerweile in Asunción auskenne, fahre ich mit dem 18er Bus zum „Jardin Botánico„, wofür ich an diesem Nachmittag noch Zeit habe. Hier soll es erstens die ganzen Pflanzen Paraguays (Urwald!) zu sehen geben und außerdem ist von dort aus eine Insel im Rio Paraguay zu erreichen, auf der ein Indianerstamm aus dem Chaco von einem der zahlreichen Missionare angesiedelt wurde. Zwar soll es sich unter dem Gesichtspunkt der Humanität um skandalöse Zustände handeln, von deren Besuch jeder Reiseführer abrät, aber mein Interesse lässt mir keine Ruhe. Der botanische Garten ist riesig und zu Fuß keineswegs zu erkunden. Schnell gelange ich in eine Sackgasse, in der mir sehr „ureinwohnermäßige“ Gestalten mit Holzbündeln auf dem Kopf begegnen, die auf einem kaum erkennbaren Pfad im Nullkommanichts im Dickicht verschwinden – man bedenke, ich befinde mich hier mitten in der Hauptstadt des Landes! Sicherheitshalber begebe ich mich in eine andere Richtung, jedoch wieder ohne Indianer. Hier gibt es dafür einen kleinen Zoo (für Tiere, nicht für Indianer). Ich möchte hier nicht über die zu kleinen Käfige und sonstigen skandalösen Zustände herziehen. Am tollsten ist das scheißende Nilpferd (eklig). Mit einem schnell hin- und herschlackernden Schwanz verteilt es seinen Durchfall nämlich unter bzw. über alle Zuschauer; schon mal gesehen oder gefühlt? Meine Suche nach Indianern gebe ich dann auf und gehe zurück zur Kasse, wo ich in einem Anfall von Vertrauen meinen Rucksack hatte stehen lassen. Der Kassierer und der Rucksack sind tatsächlich noch da. Dankbar dafür nehme ich mir die Zeit, hier eine halbe Stunde über Deutschland (Einkommen, Wirtschaft, Autos, Nazis, Hitler) zu berichten. Dafür nehme ich an ihrer Mate-Runde teil. Mate ist das Nationalgetränk in Paraguay (und Argentinien auch): Auf eine Kräutermischung wird kaltes oder heißes Wasser gefüllt und mit einer „bombilla“ (dicker, silberner Strohhalm mit Sieb) aus einem Horngefäß gesaugt; schmeckt sehr bitter. Man darf nicht „danke“ sagen, denn das heißt, man möchte nicht mehr und man muss seinen Becher immer vollständig leeren. Hier erfahre ich übrigens, dass die Indianer mittlerweile umgesiedelt wurden und jetzt in der Nähe der Remanso-Brücke leben (nahe dem Stadtteil, wo Walter wohnt).

Vom botanischen Garten aus fahre ich dann nach Remanso weiter, um meine Einladung bei Walter wahrzunehmen. Als ich dort ankomme, ist Walter gar nicht da, sondern nur der Opa und das Dienstmädchen. Trotzdem werde ich herzlich hineingebeten und mir gleich ein Bett für die Nacht angeboten, was ich auch nicht ablehne. Nach einer Anstandsunterhaltung und dem Waschen meiner Wäsche fahre ich – da Walter heute nicht mehr kommt – nach Asunción ‚rein. Hier latsche ich etwas durch die Gegend und gehe dann ins „München“ zum Essen. In dem Biergarten sitzt man wieder herrlich und bestelle (jeder, der es hier liest, möge es für sich behalten) Sauerkraut mit Eisbein. Es schmeckt herrlich, d.h. das Eisbein ist super, das Sauerkraut geht und die Kartoffel (eine!) ist unter aller Kanone (ebenso der Senf). Aber es ist soweit, dass ich hinterher gerne einen Aquavit trinken würde. In Ermangelung dessen nehme ich mit einem Wodka vorlieb. Ich glaube, je älter ich werde, desto „deutscher“ werde ich auch. Denn vor 10 Jahren in Griechenland wäre es mir um’s Verrecken nicht eingefallen, in ein deutsches Lokal zu gehen, geschweige denn, Sauerkraut mit Eisbein zu essen. Oder es hängt mit der Entfernung von der Heimat zusammen – wer weiß?

Shopping in Asunción auf dem Markt

Samstag, 5.7.  Nach einem tollen paraguayischen Frühstück, d.h. Toddy (Kakao) und trockenen Keksen (nicht süß) fahre ich per Bus zum x-ten Mal nach Asunción rein. Zuerst gehe ich zur Post, in der Hoffnung, dass noch ein Brief für mich da ist und siehe da, tatsächlich ist ein weiterer Brief von meiner Freundin angekommen! Super! Nachdem ich diesen im herrlichen Postgarten (so etwas gibt’s hier!) gelesen habe, denke ich an meinen philatelistischen Auftrag und kaufe Sondermarken ein. Wie in Lima auch gibt es hierfür einen extra Schalter und dort werde ich mit tollsten Briefmarken versorgt. Dazu sind sie noch so billig, dass sie unmöglich zum Frankieren benutzt werden könnten, es sei denn, man käme mit quadratmetergroßen Briefen. Nur weiß ich nicht, wo ich jetzt mit diesen ganzen tollen Dingern (für 2000,– Gs. DM 7,–) hin soll. So kaufe ich ein Couvert und einen Briefbogen – alles in der Post erhältlich – und schicke die Marken schnell nach Hause. So kommen sie bestimmt an.

Dann werfe ich mich in den samstäglichen Einkaufsrummel, der der Königstraße in nichts nachsteht. Am Plaza de los Heroes – wo ich zunächst noch das Mausoleum von López besuche – sehe ich mich nach Ňanduti-Spitzen um. Dieses sind die berühmten paraguayischen Spitzen, die hier nur in einem einzigen Dorf zusammengehäkelt oder weiß der Teufel wie zusammengefummelt werden. Ich lasse mir dann meine vom Regen und Schlamm endlich getrockneten, aber saumäßig aussehenden Schuhe putzen. Den Jungen frage ich nach dem Markt, der heute hier stattfinden soll. Weil ich wohl einen etwas beschränkten Eindruck mache, bringt er mich sogar extra bis zu einem Bus, der zum Mercado no. 4 fährt. Dieses ist ein riesiges Markt-Viertel, wo es alles und alles zu kaufen gibt. Aber das Angebot ist für normale Einheimische gedacht und nicht wie unten der Elektronik- und Mode-Schnick-Schnack, der für Reiche, Touristen und andere Zwielichtige gedacht ist. Mein wichtigstes Einkaufsziel für heute ist eine Tasche, denn meine Jutetasche hat, wie schon lange zu erwarten war, mittels eines Riesenloches ihren Geist aufgegeben. Eigentlich will ich einen kleinen Rucksack, aber die sind mir alle zu lummelig und primitiv. Schließlich nehme ich eine aus „Tela de avión (=Flugzeugstoff) wie es hier alle Leute benutzen. Damit falle ich in Brasilien hoffentlich möglichst wenig auf (Diebstahl!). Aber im selben Laden geht mein Einkauf noch weiter. Als es hier die Woche so kalt war, haben alle Leute ihre Ponchos ausgepackt. Selbst bei den Soldaten gehört ein Poncho zur Uniform. Das hat mir gut gefallen und ich möchte auch einen. Jedoch sind hier die Ponchos nicht so bunt wie in Perú oder Bolivien, sondern aus grauer Wolle, mit zwei dezent-farbigen Streifen (rot oder gelb) und einem Kragen. Diese Dinger gibt’s hier auch. So kaufe ich mir für 9000,– Gs. = DM 30,– einen Poncho aus Caazapá (aus diesem Ort kommen die Besten!). Damit ist meine Tasche mit dem schweren Ding gleich voll.

Zu Mittag gehe ich natürlich wieder in mein Lieblingsrestaurant „München“ und genieße Wurstsalat und zwei Halbe aus dem Steinkrug. Anschließend muss ich feststellen, dass hier auch fast alle Geschäfte am Sonnabendnachmittag geschlossen haben. So tue ich mich schwer mit meiner Ňanduti. Aber schließlich finde ich doch einen Laden, wo ich eine Decke kaufe.

Anlieferung der täglichen Frischmilch in Remanso [Bild REM]

Anschließend mache ich mich auf den Rückweg nach Remanso. Dort empfängt mich – ganz zu meinem Erstaunen, wie man sich denken kann – nicht Walter, sondern seine Mutter! Sie ist aus dem Krankenhaus entlassen und seit heute Mittag wieder daheim. Sie ist eine sehr nette Frau, die fast als Dame zu bezeichnen wäre. Ich kann mich prima mit ihr unterhalten (zum Glück), ich frage nach ihrer Krankheit etc. (Herz) und sie will meine Einkäufe sehen (Frauen sind auf der ganzen Welt gleich). Zu Abend gibt es Krankenkost (Nudelsuppe). Walter soll angeblich am nächsten Morgen ganz früh kommen, da er noch in Clorinda ist. Dann passiert das, was ich schon die ganze Zeit befürchtet habe: Es kommen andere Mormonen zu Besuch und unweigerlich kommt das Thema Religion auf den Tisch. Ich beschränke mich dabei auf Erklärungen über den Unterschied zwischen der katholischen und der evangelischen Kirche, wohlwissend, dass die Mormonen mehr zu der evangelischen Richtung neigen. Es gelingt mir jedoch bald, das Thema auf „Deutschland Allgemein“ zu lenken. Als der Besuch, der zweifel­los sehr nett ist, geht, verziehe ich mich auch ins Bett.

Wie gestaltet sich der Mormonen-Gottesdienst?

Sonntag, 6.7. Als ich um ½ 8 Uhr aufstehe, – zum Glück schlafen die Leute hier nicht so lange – ist Walter gerade aus Clorinda gekommen und fällt aus allen Wolken, als ich vor ihm stehe. Es ist nach wie vor sehr nett mit ihm und als erstes überzeugt er mich, nicht Morgen, sondern erst am Dienstag weiterzufahren. Er will resp. muss heute (Sonntag) morgen in die Kirche und hat anschließend ein Rugby-Spiel. Zu beidem lädt er mich ein. Ja und so komme ich tatsächlich in die Mormonenkirche! Ich habe zwar ziemliche Ressentiments gegen die Mormonen wegen ihrer aggressiven Missionspolitik, aber muss ganz ehrlich zugeben, dass die Leute, die ich hier treffe, sehr nett sind. Walter, der hier eine leitende Funktion ausübt, wird natürlich von jedem begrüßt. Aber auch für mich haben sie nicht nur einen Handschlag, sondern immer eine kleine Unterhaltung übrig. Mit den beiden Frauen, die gestern auf Besuch waren, unterhalte ich mich sogar eine ganze Zeit. Die „Kirche“ ist ein ganz normales Haus mit einem großen Raum, in dem viele Stühle, Rednerpult und Tafel stehen, aber nichts „Heiliges“ zu sehen ist. Außerdem gibt es noch Büros und einen Raum für den Kindergottesdienst. Alle – auch Walter – sind sehr fein mit Anzug und Schlips herausgeputzt, während ich in Jeans und T-Shirt da bin, woran aber keiner Anstoß zu nehmen scheint. Dann geht der Gottesdienst mit einer alttestamentarischen Passage los. Verschiedene Gemeindemitglieder müssen dazu etwas (Vorbereitetes) fragen oder sagen. Dann wird gesungen (außer mir!). Bald ist eine Stunde ‘rum und es kommt eine Pause. Dann geht es noch eine Stunde weiter. Zunächst Gesang und dann folgt das Abendmahl, an dem ich voll teilnehme! Das ist mein erstes Abendmahl seit meiner Konfirmation vor 15 Jahren! Vier Gemeindemitglieder sprechen die Gebete für Brot und Wasser und reichen dann in einer Edelstahl-Schale zunächst das kleingebröckelte Brot herum und anschließend Wasser, das sich in ganz kleinen Plastiktöpfchen befindet und wovon jeder eines bekommt. (Kann man eigentlich von Abendmahl-Wasser Durchfall kriegen?). Dann kommen noch X Mitglieder nach vorne und erklären in pathetischen Worten und freier Rede (!), warum sie Mormonen sind. Dann ist’s zu Ende.

In der Pause habe ich schon einen Ami kennengelernt, der hier seit 1½ Jahren als Missionar tätig ist. Er ist sehr sympathisch und kann nicht nur Spanisch, sondern spricht auch Deutsch, das er in Kiel gelernt hat. Dabei hat er nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa bereist. Dieser Ami wohnt mit einem Chilenen zusammen, der auch Missionar ist. Zu diesen beiden gehen Walter und ich nach der Kirche. Da es Mittag ist, soll es etwas zu essen geben: Omelette. Es fehlen dafür Käse und Sprudel. Die Mormonen haben Diskussionen, ob man am heutigen Sonntag einkaufen darf. Walter sagt ja, der Ami nein. Ich schlage vor, ich könnte einkaufen, da ich ja kein Mormone sei. Die Idee wird von allen akzeptiert (was für ein Quatsch!). Ich bringe auch gleich Zwiebeln und Paprika mit. Endlich kann ich mal wieder etwas in der Küche tun. Denn die Tatsache, dass ich im Urlaub überhaupt nie kochen kann, stinkt mir doch etwas. Unser Essen ist super, wenn auch Teller, Besteck etc. extrem rar sind. Dabei fragt der Ami, ob ich auch Englisch spräche und ist überrascht, als ich sage, weitaus besser als Spanisch; so kommen wir auf Englisch, auf Theologie, Kirche etc. zu sprechen. Ein sehr interessantes Gespräch. Leider müssen Walter und ich dann zum Rugby-Spiel los.

Wer gewinnt das sonntägliche Rugby-Spiel?

Ich weiß (und frage) nicht, wie man Rugby (einen elitären, brutalen Sport) und ein Funktionärsamt in der Mormonenkirche miteinander vereinbaren kann, aber Walter kann es. Jedenfalls kommen wir per Bus zu dem Sportplatz, wo das Spiel stattfinden soll. Hier treffen wir Leute, die eigentlich eher meinem Stil entsprechen: Locker, lustig, Geld- und Ausbildungsprobleme sind kein Thema, da nicht vorhanden, die meisten haben ein Auto, hinterher geht man einen trinken. Das gefällt mir weitaus besser als die bescheuerten, verproblematisierten Deutschen in der Kolonie. Man muss eben dafür sorgen, dass man in den richtigen Kreisen landet. Walter stellt mich als deutschen Reporter vor, was auch alle zu glauben scheinen! Als er zu einem sagt, er solle sich anständig benehmen, sonst schreibe ich, alle paraguayischen Rugby-Spieler seien schwul, kontert dieser, das sei besser, als wenn ich schriebe, sie seien in einer obskuren Mormonensekte. – Ich verstehe nicht, wie man zwei so verschiedene Kreise miteinander vereinbaren kann. Das Spiel ist sehr interessant, Rugby ist ein Sport, der mich eigentlich weitaus mehr interessiert als Fußball, und endet für „Unsere“ siegreich. Ob die anderen sich hinterher noch irgendwo treffen, kriege ich nicht mit. Wir fahren jedenfalls heim.

Die Rugby-Spieler beginnen, sich warm zu machen [Bild REM]

Wichtige Szene im siegreichen Spiel! [Bild REM]

Zu Hause sind Walters Onkel und Tante auf Besuch. Er hat eine Tischlerei und wohnte zuvor 25 Jahre in Buenos Aires, wo er noch ein Haus besitzt. Dieses und vieles mehr erzählt er mir. Die beiden sind mit einem kleinen LKW da und nehmen Walter und mich später mit ins Centrum. Übrigens haben sie aus ihrem Garten Pampelmusen mitgebracht, die so groß wie Fußbälle sind (ehrlich!).

Im Zentrum gehen Walter und ich wieder ins „Lido“ essen, wo ich Schweinefleisch und Ravioli bestelle. Die Portion Fleisch ist wieder unglaublich: In Deutschland würde es für eine vierköpfige, wohlsituierte Familie am Sonntag reichen. Ich schaffe es wirklich nicht alles! Dann marschieren wir noch etwas durch die Gegend und kriegen schließlich unseren Bus nach Remanso nicht mehr, so dass wir heute weit laufen müssen.

Montag, 7.7.  Morgens geht es wie üblich langsam und gemütlich zu – nur keine Hektik. Ich will heute auf jeden Fall nach Pte. Stroessner weiter und Walter will zum Rugbyspielen nach Clorinda. Ich glaube übrigens nicht mehr so ganz, dass er dort immer nur wegen seiner Mutter war. Im Übrigen blicke ich auch nicht so ganz durch, wie er überhaupt Geld verdient. Aber ich frage auch nicht viel. Auf jeden Fall kommen wir gegen 10 Uhr endlich los, denn es dauert ewig bis wir beide unsere Sachen gepackt haben. Mein Rucksack – jetzt noch zusätzlich mit Poncho und Spitzendecken – wird langsam ganz schön schwer. Nachdem wir übers Centrum fahren müssen, damit Walter den Strom bezahlen kann, kommen wir um 12.30 Uhr endlich am Busbahnhof an. Walters Bus nach Clorinda geht um 13 Uhr, nach Pte. Stroessner fährt einer um 14 Uhr. So essen wir noch geschwind zwei Sandwich con Milanesa und begeben uns in Richtung Bus. Ich verabschiede mich vielmals von Walter, denn die Gastfreundschaft, die ich dort genießen konnte, war sehr großzügig und hat mir Eindrücke in die Gesellschaft Paraguays ermöglicht, die nicht ganz alltäglich waren. Dann drückt er sich in einen furchtbar überfüllten Bus.

Ist die Stadt Pte. Stroessner ein Eldorado fürs Shopping oder für Betrüger?

Nachdem ich mich noch mit so einem Schlaumeier in die Wolle kriege, der mir doch tatsächlich vorschreiben will, wo ich auf den Bus zu warten habe – er kann mich aber ‚mal – kommt auch mein Luxusbus mit reservierten Plätzen, und es geht ziemlich pünktlich los. Die 335 km weite Strecke bis zur Stadt „Presidente Stroessner„, die auch asphaltiert ist, unterscheidet sich nicht groß von der Straße nach Encarnación. Als es dann dunkel wird, gebe ich allerdings endgültig die Hoffnung auf, noch eine Carreta, einen Ochsenkarren, photographieren zu können. Diese fahren auf dem Lande zwar haufenweise herum, aber in der Stadt sieht man sie fast nie – schade. Um 18 Uhr kommen wir in PTE. STROESSNER an, und ich bin von dieser Stadt geschockt, als ich aussteige. Es handelt sich um eine neue Stadt, die erst vor 20 Jahren direkt an der Grenze zu Brasilien gegründet wurde und die heute Ciudad del Este heißt, da Alfredo Stroessner, der langjährige bayern-stämmige Diktator Paraguays längst Geschichte ist.

Die Stadt besteht fast nur aus einer großen, vierspurigen Straße mit palmen-bewachsenem Mittelstreifen und links und rechts je einer parallellaufenden kleineren Straße, an welchen beiden ca. 2 km lang moderne Betonhäuser von einer bis 15 Etagen Höhe stehen. Alles ist hell illuminiert mit tausenden Lichtreklamen und ein wahnsinniges Gerenne, Geschreie, Gekaufe etc. umgibt mich. Es ist noch sehr warm (23°C) und mit meinem schweren Rucksack komme ich kaum durch die vielen Stände, die zusätzlich auf den Bürgersteigen stehen und wo verkauft wird. Zunächst muss ich aber mal ein Hotel finden. Mein SAH (South American Handbook) schreibt lapidar, in Pte. Stroessner seinen alle Hotels teuer und er könne keines empfehlen. Das mag ja sein, aber ich muss trotzdem schlafen und irgendein Hotel wird ja am günstigsten sein. So frage ich halt einen Jungen, der mir auch etwas empfiehlt. Aber der Weg dorthin ist schon schlimm. Alle Seitenstraßen sind nur von Bretterbuden gesäumt, in denen Geschäfte und Restaurants einfacherer Art untergebracht sind. Trotz des guten Wetters sind alle Straßen nass und matschig (trotz grober Pflasterung), so dass die Schuhe und Hosen gleich saumäßig aussehen. Nichtsdestotrotz komme ich zu der Hospedaje, die natürlich auch in einer Bretterbude untergebracht ist, zudem dreckig und belegt ist, so dass sie mich per Auto 1½ km entfernt bringen würden, wo ich schlafen könnte. Das kommt aber nicht in Frage. So frage und suche ich weiter, bis ich ein anderes Hotel finde, wo ich für 4.000 Gs. (DM 13,50), also das Doppelte des normalen Preises, sauber, aber unfreundlich unterkomme. Dann mache ich mich auf den Weg durch dieses wahnsinnige, unglaubliche, unbeschreibliche Tohuwabohu-Gewimmle, das hier herrscht.

Hier kaufen die Brasilianer (und Argentinier) mit Vorliebe ein [Bild REM]

[Bild REM]

Die Bürgersteige sind zunächst in zwei bis drei Reihen (!!) mit Ständen überfüllt, wo man Kassetten, T-Shirts, Werkzeug, billige Musikgeräte, Unterhosen, BH’s, Schlüsselanhänger, Batterien, Taschenlampen, Uhren, Taschenmesser, Parfüm und tausende anderer Gegenstände dieser Art kaufen kann. Dazwischen rennen „noch ambulantere“ Händler herum, die Handtücher, Socken, Parfüm u. dgl. auf dem Arm haben und anbieten. In den Häusern sind dann hunderte, nein tausende Läden untergebracht, die sämtliche vorstellbare Größenordnungen haben. Es geht los mit Passagen, in denen ein Geschäft in „Sozialwohnungs-Klo-Größe“ neben dem anderen untergebracht ist. Hauptangebot: Hi-Fi, Elektronik, Fotoapparate und dergleichen. Dann gibt es größere Geschäfte, in die mehrere Kunden gleichzeitig hineinpassen (!) und die die merkwürdigsten Angebotskombinationen haben, z.B. Trompeten, T-Shirts und Parfüm oder Kassetten-Recorder, indische Bronze-Elefanten und Schuhe. Die Verkäufer müssen Genies sein! Schließlich gibt es Riesenläden mit Warenhaus-Auswahl. Aber dort gibt es teilweise wirklich exklusive Sachen: Antike chinesische Vasen, teuerste Parfüms, echte Rolex-Uhren, englisches Porzellan und dann im selben Laden direkt daneben auch billigsten Ramsch. Dazwischen wird immer und überall gebaut und erweitert, aber sowie etwas wandähnliches mit einem kleinen Dach steht, geht der Verkauf schon los. Ein riesiges, bis jetzt 6-stöckiges Haus gibt es, das in jeder der fünf unteren Etagen ca. 30 Läden hat, in der sechsten Etage wird z.T. schon verkauft, z.T. noch eingerichtet, in der siebten Etage wird noch betoniert und die achte Etage ist nur an Moniereisen zu erkennen. Unglaublich! Dazwischen rennen natürlich dicht an dicht vollgepackte Männer und Frauen herum, die kaum ihre Tüten alle halten können. Die Königstraße am letzten Samstag vor Weihnachten ist vergleichsweise ein Friedhof. Die Hauptwährung ist hier der brasilianische Cruzado – die meisten Kunden sind Brasilianer – aber ebenso gut gehen Dollar, Austral, Guaraní oder D-Mark. Jeder Verkäufer hat alle Kurse im Kopf!

Relativ wenige Restaurants gibt es hier allerdings. Aber vor lauter Einkaufen fressen die Leute hier nur Hamburger. Aber ich finde doch etwas und nach Churrasco und Bremer Chopp schreibe ich ausgiebig in meinem Tagebuch.

Dienstag, 8.7.  Morgens stehe ich schon um 6.30 Uhr auf, weil ich viel zu erledigen habe: Ich muss meinen Bus nach Rio festmachen, da ich Freitagmorgen meine Freundin auf dem Flughafen in Rio abholen will, muss hier ein neues Hotel suchen, weil mir dieses stinkt und muss ‚rausfinden, wie man nach Itaipú kommt, das ist das berühmte Wasserkraftwerk, das ich besichtigen will. Vor lauter Stress vergesse ich ganz, dass mein Hotelpreis unüblicherweise Frühstück enthält und gehe woanders essen, aber dafür gibt’s sogar Käse! Dann kommt mir die gute paraguayanisch-brasiliansche Zusammenarbeit zugute. Ich kann nämlich hier schon das Ticket kaufen, um am nächsten Morgen auf der anderen Seite des Grenzflusses Rio Paraná in Foz do Iguaçu (Brasilien) Richtung Rio de Janeiro losfahren zu können. Das ist super. Die Fahrt dauert nämlich 22 Stunden (ca. 1.800 km), und ich will auf keinen Fall im Dunkeln in Rio ankommen. So muss ich spätestens Morgen, Mittwoch, um 9 Uhr hier los, denn Irene kommt Freitag um 5 Uhr morgens an. Als ich das Ticket habe, finde ich auch noch ein preiswerteres und freundlicheres Hotel, nämlich das Hotel „Tripolis„.

Das (damals) weltweit leistungsstärkste Wasserkraftwerk Itaipú mit 14 GW

Da finde ich mit etwas Fragerei – hier geht das im Gegensatz zum Portugiesisch sprechenden Brasilien noch sehr gut – den normalen Bus, der bei Itaipú vorbeikommt. So spare ich das Geld für den teuren Touristenbus. Nach ½ Stunde bin ich schon dort, denn es führt eine super-elegante, vierspurige Straße dorthin. Ohne das Kraftwerk überhaupt sehen zu können, kommt man an ein modernes Empfangsgebäude, wo man seinen Pass vorzeigen muss. Dann komme ich gerade noch rechtzeitig zum Ende eines Filmes, den eine ganze Horde Touristen (viele Deutsche) anguckt. Wir werden in einen Bus verfrachtet und zunächst zu einer Aussichtsterrasse gefahren. Hier in Kürze die Zahlen, die ich mir merken konnte: Der Stausee (aufgestauter Rio Paraná, der hier die Grenze zwischen Paraguay und Brasilien bildet) ist 490 km lang, die Staumauer 190 m (= 60-etagiges Haus) hoch, es werden bis 1990 Achtzehn Turbinen installiert, von denen jetzt bereits vier in Betrieb sind, seit 1975 wird gebaut, die Leistung heute beträgt 12.600 MW, die ganz Paraguay und Teile von Brasilien und Argentinien versorgen. Neben der eigentlichen Staumauer, unterhalb der die Turbinen in Rohren mit 10,5 m Durchmesser und 80 mm Wandstärke sitzen, befindet sich eine weitere Mauer mit 14 Toren, durch die das überschüssige Wasser abgelassen wird. Das sind heute 1.000.000 m³/sec, die sich aber nach dem jeweiligen Wasserstand richten. Das Kraftwerk ist natürlich so ausgelegt, dass bei minimalem Wasseraufkommen alle 18 Turbinen noch zu 100 % ausgelastet sind. Die heute nutzlos abfließenden 1.000.000 m³/sec sind eine weitaus größere Menge.

Der Autor in Itaipú [Bild REM]

Ablaufbahn des überschüssigen Wassers [Bild REM]

Blick in den Turbinenraum von Itaipú, wo damals die ersten vier von 18 Turbinen installiert waren [Bild REM]

Von der Aussichtsterrasse aus sieht man das nebensächlichste, aber beeindruckendste Schauspiel von Itaipú: In zwei von drei Trassen fließen die überschüssigen 1.000.000 m³/sec die 190 m Höhenunterschied auf einer schiefen Ebene (ca. 30° Neigung) hinunter und schießen am Ende der Trasse in einem Bogen in den Paraná! Es ist also fast eine Art riesiger, künstlicher Wasserfall. Dann werden wir weitergefahren an den Fuß der Staumauer, über resp. neben mir befindet sich also der Wasserdruck einer 190 m hohen Wassersäule! Von einem Empfangsraum aus geht es auf eine Bühne, von der aus man in den Turbinenraum sehen kann, wo bereits vier Turbinen arbeiten und die übrigen (pro Jahr drei Stück) montiert werden. Der Bau und die Montage einer solchen Anlage ist zugegebenermaßen doch etwas anderes als die Montage eines Karossen-Trockners oder auch einer VW-Pilotanlage, aber sehr reizvoll! Schließlich werden wir noch auf die Staumauer gefahren, von wo aus man die Anfänge des riesigen Stausees und die Gesamtanlage gut erblicken kann. Dann geht’s zurück zum Empfangsgebäude. Dort rät mir ein Wärter, gleich hinter einer brasilianischen Reisegruppe herzulaufen, die per Bus nach Stroessner zurückführen – so komme ich schnell und gratis in die Stadt zurück.

Hier gibt es nichts, was es nicht gibt! [Bild REM]

Nach dem Mittagessen und etwas „descansar“ in meinem neuen Zimmer (mit baño privado und Balkon) fröne ich einem sehr weiblichen Gefühl, denn ich ergebe mich dem Kaufrausch in Pte. Stroessner! Was keiner glaubt, ist doch wahr, denn am Abend komme ich mit folgender Ausbeute heim: Ein Walkman (DM 40,-) drei Kassetten (à DM 3,50), zwei T-Shirts (à DM 3,50), ein Sweatshirt (DM 15,–) und ein Hemd (DM 10,–). Die Preise sind unglaublich, aber wahr und auch deswegen so preiswert, weil der Umtausch von Dollar in Cruzados hier sehr günstig ist (1 US-$ = 21,20 Cz-$). 1000 (alte) Cruzeiros = 1 (neuer) Crzuado Cz-$. Jedoch werden nur Cash-Dollars und grundsätzlich keine Reiseschecks genommen. Der Grund dafür ist die Tatsache, dass Reiseschecks zu viel gefälscht werden. Nach diesen anstrengenden Einkäufen gehe ich früh schlafen, denn am nächsten Tag muss ich ebenso früh aufstehen.

Hier geht’s über die Freundschaftsbrücke nach Brasilien [Bild REM]

Mittwoch, 9.7. Das Wecken klappt natürlich wieder nicht, trotzdem wache ich pünktlich um 5 Uhr auf. Ich muss wieder so früh los, da ich ein Ticket für den 9-Uhr-Bus habe, der dann im brasilianischen Foz do Iguaçu. abfährt. Das ist 8 Uhr paraguayische Zeit, ein Tip, den mir der Kartenverkäufer zum Glück gegeben hat und für den Grenzübergang und das Finden des Busbahnhofes rechne ich sicherheitshalber zwei Stunden, denn eine Grenze ist immer schlecht zu kalkulieren (hoffentlich ist überhaupt schon offen). Um 6 Uhr bin ich an der paraguayischen Grenze, kriege gleich meinen Stempel und gehe weiter über die internationale Brücke, die hier Puente de Amistad (Freundschaftsbrücke) heißt und über den Rio Paraná führt. Der brasilianische Grenzer beginnt gerade seinen Dienst und ich kriege gleich meinen Stempel, womit mir Brasilien offensteht!

Gemeinsam mit meiner Freundin werde ich mit dem sogenannten Brasil-Airpass dieses riesige Land erkunden und lieben lernen, wenngleich die Götter noch einige Hürden davor aufgebaut hatten. Diese und was wir sonst noch in diesem außergewöhnlichen Land erlebt haben, werde ich Dir im nächsten Teil schildern.

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Titelbild: Asunción (heutzutage), Foto von Alan Martinez – https://unsplash.com/de/@draz_ph

 

 

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