Algerien: Fülle im Nichts. Eine Reise in die Sahara
Translation with GoogleEin Gastbeitrag von Gaby Indermaur, die Reisegeschichten und Bilder u.a. in ihrem ReiseBlog Toguna publiziert.
Fülle im Nichts
Eine Reise im April 2014 in die Sahara Algeriens
- Purer Luxus im Füllhorn der Zeit
- Fische in der Wüste
- Wahlen für Stabilität
- Abdel Kadher schwebt
- Fülle im Nichts
Wüste – endlich wieder… Und immer wunderschön!
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Fülle im Nichts
Was lässt mich im Frühling 2014 in die Sahara aufbrechen? Die Sehnsucht nach der Stille, dem Nichts – und nach mir. Raus aus der Hektik des Alltags, will meine herumschwirrenden Einzelteile wieder zusammen fügen. Nebst dem Genuss von «Nichts» bereichern die Begegnungen und Gespräche mit den Tuareg die Augenblicke, öffnen Einblicke in ihre Gedanken und Alltag.
Diebstahl oder Totschlag! Noch besser, beides – ich habe keine andere Wahl! Will nur raus hier, weg, zurück. Will, dass es aufhört. Übelkeit rumort in meinen Eingeweiden, heftige Migräne krallt sich peinigend hinter meiner Stirn fest. Was ist geschehen? Wo bin ich hier? Was passiert mit mir? Gefangen bin ich…
Nichts. Einfach nichts ist hier. Wirklich? Ist Nichts nichts? Was braucht es denn, dass aus diesem Nichts Fülle wird? Oder ist es schlimm, mal nichts zu tun, nichts zu denken, Stunden einfach auf sich einwirken zu lassen? Ohne Ablenkung, ungefiltert sich wahrzunehmen?
Ich fliege ins Nichts; in die tiefschwarze Nacht. Andere Distanzen: Der Flug von Algier nach Tamanrasset im Süden Algeriens ist ungefähr gleich weit wie von Frankfurt in die Hauptstadt Algier. Zum Endziel Djanet fliege ich nochmals eine knappe Stunde. Die Distanzen in diesem Land sind riesig, alles hat viel mehr Platz. Im Vergleich zur Schweiz ist Algerien rund 57-mal grösser. Durchschnittlich leben pro Quadratkilometer ungefähr 16 Einwohner, in der Schweiz rund 193 Einwohner/km². Raum also für ganz vieles – und für mich!
Algerien im Frühling 2014 bereisen? Und dann noch in die Sahara? Meine Reisepläne haben teils Kopfschütteln ausgelöst. Sind doch gewisse Regionen für Touristen wegen Entführungsgefahr leider zurzeit nicht bereisbar. «Ja, ich lebe definitiv gerne!», entgegnete ich Skeptikern. Und ja, es gibt eine Teilreisewarnung für Algerien. Aber die Sehnsucht nach der Wüste ist gross. Ich will raus aus der Hektik des Alltags, rein in die Stille, hin zu mir. Habe manchmal das Gefühl, ich schwirre in Einzelteilen umher; möchte diese wieder zusammenfügen; ganz werden. Reisen mit einer lokalen Agentur, welche von der Regierung autorisiert ist, sind in der Region von Djanet im Südosten des Landes, möglich. Und genau dorthin reise ich über die Ostertage 2014. Sehnsucht nach dem «Nichts…»
Sand zwischen den Zehen und auf der Kopfhaut, Sand im Schlafsack und in der Tasche, zwei Wochen keine Dusche, Übernachtungen im selbstaufgebauten Zelt oder unter dem 1000-Sterne Hotel, kein Laden und Restaurant, kein Internet, null Handyverbindung. Wunderbar! Dafür Zeit, Ruhe, Stille, Aus- und Weitsichten, Einsichten. Wanderungen, Gesteinsformationen und Felsmalereien. Teezeremonien, das Wolkenspiel und tanzende Winde, Sonne im Gesicht. Braun- und Beigetöne in allen Nuancen, feines Rot. Und ich; gute Aussichten.
Kostbarkeiten in dieser hektischen Zeit sind das. Zeit und Musse – purer Luxus mitten im Füllhorn des schweizerischen Alltags.
Wir übernachten Anfangs der Tour zwei Nächte in einer Rundhütte. Im Camp suche ich mir irgendeine aus. Die Tür aus Bambusstängeln ist offen, mit einer Schaumstoffmatratze in der Hand trete ich gebückt in dieses halbdunkle unmöblierte Rund. Der Staubboden wirbelt beim eintreten auf, die Partikel tanzen in der Sonne, welche durch schmale Ritzen in die Hütte züngelt. Bin ich nun doch noch in der Schweiz? Denn in den Kerben beim Übergang der Wand zum Dach steckt eine leere Schokoverpackung. «Rocher Lait» von Lindth und Sprüngli. Die Schweizerin findet die Schweizerhütte. So ein Zufall?
Fische in der Wüste. Die Tageswanderungen im Tassili n’Ajjer sind landschaftlich reizvoll. Es tut gut, einfach zu gehen. Vom Rand eines Felsen-Plateaus wandern wir hinab zu einer einsamen Oase. Palmen und dichtes Grün mitten in den verschiedensten Brauntönen. Die Zeribas, so werden die Hütten genannt, sind unbewohnt. Ein paar Esel beäugen uns neugierig. Unter schattigem Grün bestaunen wir das Leben im seichten Wasser, freudig befühlen wir das Nass. Welch‘ Vergleich zu daheim: Hier wird ein Rinnsal bewundert, neugierig mit der Hand die Wassertemperatur geprüft. Wären wir daheim einfach so und achtlos daran vorbei gegangen?
Der Wanderführer Mohammed geht voraus, der Weg führt über Felsen einen Wasserlauf in weiten Schluchten entlang. Grasbüschel und Oleander wachsen, Palmen säumen teils das kaum dahinfliessende Nass. Und dann sind da Fische. Unzählige Fische schwimmen in den Gueltas, diesen felsigen Wasserbecken. Mal sind die Stellen schmal und der Canyon tief, mal breit und flach. Fische in der Wüste – so viele! Fülle im Nichts.
Die Menschen und das Land. Wir sind zwölf Touristen und werden von Tuaregs bestens umsorgt. Ahmed und Ahmed, Kacem und Albasher fahren die Toyota Hilux Pickup, Ouahab und Holi bekochen uns. Morgens gibt es Baguettes mit Margarine, Marmelade, Nutella und den allgegenwärtigen Streichkäse «La vache qui rit». Kein Urlaub in Nord- oder Westafrika ohne diese rote lachende Kuh. Mittags Salate mit Kohl oder Schnittgrün, beides eingewickelt und frisch gehalten in nassen Tüchern. Kartoffeln, Ei, Gemüse oder Hülsenfrüchte. Abends zaubert Ouahab aus seiner Wüstenküche Suppe und einen Eintopf, mal Reis, Spaghetti oder sonst etwas Leckeres. Und dann Tee. Mittags bereitet der jüngere Ahmed die drei Gläser Tee auf dem Feuer zu, abends nach dem Essen jeweils Kacem. Die erste Tasse Tee bitter wie das Leben, die zweite Tasse süß wie die Liebe und die dritte Tasse sanft wie der Tod, so heisst es.
Die Tuaregs lachen, scherzen, palavern dauernd untereinander. Oft sind sie zusammen mit Touristen unterwegs, kennen sich gut. Albsher lebt mit seiner Familie in Djanet, die anderen wohnen in Tamanrasset. Und ich würde zu gern Tamaschek verstehen. Was sie sich wohl immer zu erzählen haben? Auch wir werden sicherlich dann und wann Thema ihrer Gespräche und Lacher sein. Wir wirken manchmal vielleicht schrullig auf sie. Denn wer latscht schon freiwillig zwischen 32 und 37 Grad durch die Wüste, wenn auch ein Auto ans Ziel fährt? Oder – was wohl alles in den teils sehr grossen Taschen verstaut ist? Episoden gäbe es sicher zuhauf. Ich mag ihre Stimmen, auch als Hintergrundgemurmel. Es gehört einfach dazu. Eine Unterhaltung ist teils schwierig, teils einfach mit den Begleitern. Vier Wörter Tamaschek, ein Dutzend Brocken Arabisch, etwas Französisch, Englisch und Deutsch – die Unterhaltungen gelingen so oder so; auch mit Händen, Füssen und einem Lächeln.
Die Gespräche mit unserer Begleitmannschaft schätze ich sehr. Mal sind diese fröhlich und locker, mal tiefgründig und persönlich. Was bewegt sie im Alltag? Welche Sorgen plagen sie? Wie möchten sie die Zukunft gestalten? «Die Touristenzahlen sind stark zurückgegangen. Viele von uns haben darum keine Arbeit mehr, für etliche Familien sind die Einnahmequellen dadurch weggefallen», klagt einer.
Auch Algerien leidet unter dem Terror der militanten Islamisten. Das Land, das als Nachbarn die Länder Tunesien, Libyen, Niger, Mali, Mauretanien, West-Sahara und Marokko hat, ist auch von dessen Geschehnissen tangiert. Die Grenze beispielsweise zu Mali ist 1400 Kilometer lang, jene zu Niger misst knapp 1000 Kilometer und sind schwierig zu kontrollieren. «Ich möchte meiner Familie bescheidenen Reichtum bieten, meine Kinder sollen studieren und dann in guten Jobs arbeiten können.»
Ein Bürgerkrieg in den neunziger Jahren hat hunderttausende Menschen getötet. Die Sehnsucht nach Stabilität ist auch der Grund, weshalb der kranke 76-jährige Abd al-Aziz Bouteflika zum vierten Mal während meines Aufenthalts mit grossem Mehr zum Präsidenten gewählt wurde. Sicherheit und Stabilität statt Reformen mit ungewissem Ausgang – jeder Mensch will doch in Frieden leben! «Ist es jetzt in Ägypten, Libyen oder Tunesien besser?», hinterfragt mein Gesprächspartner. «Die Touristensaison ist nun vorbei, zu heiss wird es jetzt. Es ist schwierig Arbeit bis zum Herbst zu finden. Jemand von uns führt in Tamanrasset einen kleinen Kiosk, oder hat eine Anstellung. Aber es ist nicht einfach.» «Ich bin stark und ich will arbeiten!» «Hoffentlich wird die Lage in der Sahara besser und viele Reisende kommen wieder in unser schönes Land.» Menschen wie wir, mit oft identischen Lebenswünschen. Frieden – Stabilität. Egal mit welcher Hautfarbe, Kleidung, egal in welchem Land.
Zu Hause dann werde ich einen Artikel in einer Schweizer Zeitung lesen, der mich in rage bringt. Der Autor kritisiert die Menschen in Algerien, weil sie Bouteflika wieder gewählt haben. Einen alten kranken Mann, ohne Reformwillen, reklamiert er. Ohne die Hintergründe zu beleuchten, kritisiert der Journalist die Menschen. Ist es denn falsch, wenn die Bewohner Algeriens in Frieden und Stabilität leben möchten? Stabilität generiert halt keine fette Schlagzeile… Und – hat er je mit den Menschen im Land gesprochen oder den Artikel nur am Schreibtisch irgendwo im bestens ausgestatteten friedlich stabilen Schweizerbüro bei einem frisch aufgebrühten Espresso ohne Stromunterbruch geschrieben? Werte Schreibende – bitte vergesst die betroffenen Menschen nicht. Sprecht mit Ihnen!
Abdel Kadher. Er schwebt über den Sand, über Geröll. Leichtfüssig klettert er über Gesteinsbrocken, auf steile hohe Dünen. Abdel Kadher ist südöstlich von Djanet im Tadrat-Gebiet ungefähr 40 km von der Grenze zu Libyen entfernt, für ein paar Tage unser Wanderführer. Knapp 1 Meter 70 gross, mit schmaler, zäher und doch kräftiger ausdauernder Statur. Sein Gewand aus grau gestreiftem Anzugstoff geschneidert, eine beige Weste mit vielen Aussentaschen nimmt seinen Krimskram auf, der schwarze Chech um seinen Kopf lässt Nase und wach blitzende Augen frei. Schwarz sind auch seine Socken und Sandalen, die Hosen in dunklem lila, deren Abschlüsse mit einer Bordüre bestickt. Den linken Ringfinger ziert ein schmaler Silberring, er soll 64 Jahre sein. Eine anziehende Aura umgibt ihn, würdevoll, mit spezieller Energie, durch seine Zurückgenommenheit weckt er Neugier in mir. Er spricht kaum, ist aber jederzeit hellwach und registriert alles um sich herum. Eine Unterhaltung ist kaum möglich – und eigentlich auch überhaupt nicht notwendig. Wir verstehen uns über die Augen. Wieder ist er da, einer jener magischen Augenblicke, wo es ein erkennen ohne Worte gibt. Nie höre ich ihn laut lachen oder reden, ein leiser Mann. Spannend, ihn zu beobachten. Je nach dem was jemand von uns tut, schleicht sich ein kleiner feiner Schalk oder Belustigung in seine Augen. Schwarz sind sie, wissend, lesend, kennend, verstehend.
Eine eckige Metall-Wasserflasche, eingewickelt in hellbeigen Stoff, feucht beim Abmarsch, und ungefähr 1.5 Liter fassend, hängt über seine Schulter, mal gerade, mal diagonal. Selten trinkt er einen kleinen Schluck. Einen Holzstock bis zur Brust reichend hat er dabei, nicht als Gehhilfe einsetzend. Zu fit und flink ist er dazu. Mal trägt er den Stock in der einen, mal in der anderen Hand, mal quer im Nacken und mit beiden Händen locker haltend. Manchmal trägt er auch eine Sonnenbrille mit schwarzen Gläsern und ebenso schwarzem Rand. Keck trägt er diese bei Nichtgebrauch am Hinterkopf. Beim Gehen hinterlässt er kaum Abdrücke im Sand, keine Schweissperle ziert in der Hitze seine Stirn. Mühelos und ohne Anstrengung geht er auch kräftezehrende Passagen. Bewusst gehe ich in einigem Abstand in seinen Fussspuren. Kurze Schritte nimmt er, den Fuss setzt er flach auf, rollt nur leicht über die Fussballen ab. Ich versuche, seine Technik zu kopieren. Ist so das Gehen im tiefen Sand weniger anstrengend? Ich muss dazu wohl noch jahrelang üben.
Auch auf den Wanderungen suche ich die Ruhe. Lasse mich oft weit hinter die Gruppe fallen. Das Geschnatter stört mich, ich mache es für mich passend und gehe zuhinterst. Ich bin damit nicht alleine, auch ein, zwei andere Mitreisende suchen die Stille. Problemlos gehen wir mit grossem Abstand oder auch mal näher beisammen stundenlang schweigend. Merken denn die Dauererzähler nicht, wo sie sind? Oder ist die Wüste einfach ein bisschen zu gross für sie? Manchmal kommt es mir so vor. Nachmittags verzichte ich meist auf die Wanderung, fahre stattdessen mit dem Offroader ins abendliche Camp. Streife dort umher, suche mir einen wunderschönen Platz, warte stundenlang auf den Sonnenuntergang. Unterhalte mich im Sand oder auf einer Matte sitzend mit den Tuareg.
Ich arrangiere mich als Individualreisende in der Gruppe, habe mir die Tour ja freiwillig ausgesucht. Ob es für Abdel Kadher während den Wanderungen auch zu laut ist? Wir machen vormittags an einer schattigen Felswand Pause. Palaver auf Dauersendung. Abdel Kadher sitzt einfach da, sieht dann und wann jemandem in die Augen. Und es ist, als ob er alleine mit seiner Energie und geheimnisvollen Aura die Personen zum Schweigen bringt. Wohltuend, fühlbar, speziell – unvergesslich. Mit «Nichts» unsere Gruppe erfüllt. Welch‘ reiche Fülle!
Fülle im Nichts. Ich habe Zeit. Zeit zum Denken, Zeit zum Sein, Zeit um nichts zu Denken. Zeit um zu gehen, zu sitzen, stundenlang in der Mittagshitze im Schatten zu ruhen. Zeit, um auf einer Düne auf den Sonnenuntergang zu warten. Zeit, um frühmorgens auf einem Steinhügel der Sonne beim Aufstehen zuzusehen. Ich muss nichts. Keine Erwartungen sind zu erfüllen, keine Forderungen, keine Ablenkung. Nichts kommt von aussen. Cocon um mich herum, wohltuend, erfüllend, reich machend.
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Die Wanderungen führen uns über Sand, Geröll, auf über hundert Meter hohe Gesteinsformationen, durch enge Schluchten, weite Landschaften. Die Wüste ist so viel mehr als «nur Trostlosigkeit». Da ist Nichts? Da ist so viel; so viel Fülle! Habe ich daheim so viel Zeit? Oder anders herum die persönliche Frage: Nehme ich mir zu Hause die Zeit für mich? Hier habe ich keine Ablenkung durch den Alltag, durch elektronische Gadgets, durch Konsum. Fülle im Nichts – so wertvoll, wohltuend. Schaffe ich es, mir wieder ein Stück Gelassenheit in meinen Alltag hinüber zu retten? Auch ich «muss daheim im Alltag funktionieren», ganz klar. Aber ich habe die Freiheit und kann mir zwischendurch auch meine Inseln vom Alltag selber gestalten. Ich darf es nur nicht vergessen…
Bei all dieser Fülle im Nichts füllt sich auch meine Tasche und mein Schlafsack langsam aber sicher mit Sand. Dabei darf ich doch gar keinen Sand und Steine ausführen! Auch mein Kopf wird langsam voll, nicht vom Denken, sondern die Kopfhaut mit Sand. Ja nicht mit den Fingernägeln kratzen und möglichst einen Hut oder Tuch tragen. Welches ich oft wie einen Chech um den Kopf binde. Ich kann die Tuareg sehr gut verstehen, dass sie dieses lange Stück Stoff um den Kopf wickeln. Sehr praktisch und falls ein Windstoss kommt, schütz er auch das Gesicht, Sonnenschutz ist er sowieso. Die weiten Gewänder sind praktisch, weil luftig und leicht. Seit Jahrhunderten.
Schutzlos liege ich nachts draussen vor meinem Zelt. Und fühle mich doch wohl. Einen Skorpion habe ich beim nächtlichen Toilettengang entdeckt. Freiwillig habe ich ihm sein Revier überlassen. Ja, sie kriechen auch mal unter eine Schlafmatte, weil es dort so schön behaglich warm ist. Darum gilt auch, Matten oder Decken von oben her anzufassen und nicht darunter zu greifen. Und es empfiehlt sich, Schuhe vor dem anziehen auszuschütteln. Wenn der Wind zu stark ist, ziehe ich ins Zelt um oder bei Wind verziehe ich mich gleich hinter dem Reissverschluss. Höre nachts wenn ich im Zelt liege wie eine Windböe heranbraust. Rauschen erfüllt dann die Luft. Die Zeltstangen biegen sich, die Hülle flattert, Sand peitscht an die Zeltwand. Jemand geht draussen am Zelt vorbei. Wer es wohl ist? Die nächste Böe braust heran, Sand prasselt ans Zelt. Liege im Schlafsack, warte einfach auf den Schlaf. Und tue nichts.
Doch dieses Gefühl von Freiheit draussen zu schlafen, das streicheln des Windes im Gesicht zu spüren, diese Verbundenheit mit der Natur, geerdet – es tut so gut, gibt mir so viel. Auch hier – nichts ist um mich herum, aber die Fülle ist gross, wohltuend.
Meine herumschwirrenden Einzelteile werden Ganz. Ich streife umher und bewundere schwarze Dünen, Sandwirbel jagen über den Sand, Felsbögen wie im US-amerikanischen Nationalpark Arches, Gesteins-Monolithe wie im Monument Valley, Schluchten wie in Dschibuti, Sandberge wie in Tunesien, rote Dünen, braune und beige Sandhügel. Der Wind singt seine ureigene Melodie. Knochengerippe, ein Stück Fell in Dornen gefangen. Blumenblüten. Sitze einfach da, die Stille geniessend, nichts vermissend.
Oh nein, denke ich. Bitte lass mich in Ruhe und baggere mich nicht an. Ich will alleine auf dieser Düne sitzen. Doch der Einheimische nimmt zielsicher Kurs auf mich. Grapscht mich an, ich scheue ihn weg. «Hau ab und lass mich in Ruhe», murmle ich leise. «Es hat hier soviel Platz, geh‘ auf eine andere Düne», reklamiere ich. Behutsam aber doch mit schnellen Bewegungen will er an der Innenseite meines rechten Oberschenkels hochwandern. Will der jetzt auch noch meine Haut unter dem Stoff erspüren? Meine Abstands-Wohlfühlgrenze ist damit definitiv überschritten. «Schluss jetzt!», herrsche ich ihn an. Stehe auf und lasse den schwarz glänzenden sechsbeinigen Pillendreher-Käfer ohne Beute zurück. Ich lasse mich doch nicht von jedem abschleppen…
Was bleibt übrig? Diebstahl oder Totschlag! Noch besser, beides – ich habe keine andere Wahl! Gefangen bin ich in meiner Sehnsucht nach Stille.
Die fünf Stunden Zugfahrt vom Flughafen nach Hause sind eine Qual. Zu schnell, zu laut, zu viel von allem. Vor dem Fenster das satte Grün des üppigen Frühlings. Sanddünen schieben sich über die Äcker, ein Fluss wird zur Guelta, die Bäume zu Palmen. Ich liebe das Aufbrechen des Frühlings – doch nicht heute. Schon wieder schiebt sich die Wüste über diese grüne Sattheit. Ich schliesse die Augen, lasse mich gedanklich tragen vom singenden Wind, das Gesicht in kitzelnde Sonnenstrahlen haltend, die Weite und Stille fühlend.
So viele Menschen und Dauer-Palaver, ein hin und her gehen im Waggon. Setzt euch hin und seid einfach mal ruhig, schreit es in mir. Doch niemand merkt, dass ich leide. Schon wieder habe ich es getan. Habe mich den Wohl-Gefühlen des Reisens auf meinem Herzens-Kontinent ausgesetzt. Wohlwissend, dass ich schnell in Afrika „ankomme“, aber Tage, manchmal Wochen für die Rückkehr benötige. Was bleibt übrig?
Daheim angekommen. Zu Hause öffne ich weit die Fenster. Fühle mich eingesperrt. Was ich sonst so liebe, ich halte es kaum aus. Vogelgezwitscher und dann das: «Bääh, bääh, bling, bling», tönt und bimmelt es von draussen. Schafe weiden unmittelbar nebenan auf einer Wiese. Ich ertappe mich kurz dabei, wie ich gedanklich die Glocken klaue und diesem nervigen Geblöke ein Ende bereiten will. Doch die wolligen Vierbeiner können ja auch nichts für meinen Gemütszustand. Der Bauer fühlt mit mir und auf wundersame Weise sind die Tiere drei Tage später weg. Ich schwöre, ich habe mit diesem Verschwinden nichts zu tun!
Und nun sitze ich auf dem heimischen Balkon, umgeben von üppigen Grün und Vogelgezwitscher, erinnere ich mich an die wunderbaren Momente in Algerien. Ermahne mich, dass ich mir ab und zu Zeitinseln in den Alltag integriere. Und lausche mit Freuden dem Vogelgezwitscher, dem Geblöke und Gebimmel der Schafe zu. Sie sind zurück – und ich auch… Trotz Sehnsucht im Herzen nach diesem erfüllenden Nichts…
Titelbild des Beitrages: Copyright Gaby Indermaur, ReiseBlog Toguna
Ein Gastbeitrag von Gaby Indermaur, die Reisegeschichten und Bilder u.a. in ihrem ReiseBlog Toguna publiziert.