Bregenz: Bei Carmen wird es feucht. Ein unerwartetes Ende
Translation with GoogleCarmen? Mit dem Luder hatte ich es zuletzt Mitte der 90er Jahre zu tun. Ich war beruflich unterwegs in NDL, in den damals noch „Neuen Deutschen Ländern“, und da traf ich sie, das männerverschleißende Flittchen. In Thale, im Harz, auf dem Hexentanzplatz. Am Brocken: Dort, wo heute noch die Hexen fliegen.
Bevor ich weiter schreibe: Kennst Du „Clickbaiting„? Das ist eine Überschrift, oder ein Text, der geradezu herausfordert, auf „weiter“ zu klicken, weil man mehr wissen will.
Da bist Du gerade richtig. Es geht nämlich um eine recht direkt agierende Dame (ganz in rot in Bregenz), die schon recht früh (durch Karten!) mitbekommt, dass sie ein gewaltsames Ende nimmt. Bei den
Bregenzer Festspielen
wird die Geschichte bis zum bitteren Ende der Dame äußerst effektvoll und kurzweilig in Szene gesetzt. Und aufwendig. Manchmal weiß man gar nicht, wohin man zuerst sehen soll.
In diesem Zusammenhang ist die Schmugglerszene erwähnenswert, wo mit Seilen bewaffnete Stuntleute sich quer und kreuz durch das in die Luft geworfene Kartenverhau hangeln, und ich mehrmals vom eigentlichen Focus am Boden abgelenkt werde.
Oder umgekehrt. Da singt eine weibliche Stimme, und ich denke mir, wo singt sie denn bloß, hinter den Kulissen? Im Gegenteil: Die Dame sitzt in einer der Riesenhände, die links und rechts das großartige Bühenenbild begrenzen, hoch, hoch oben, viele Meter über dem Boden. Wie gesagt, auf diese Dame, Michaela genannt, werde ich erst durch Hinweise meiner Sitznachbarn aufmerksam. Bemerkenswert, wie die Micaëla (ein Double natürlich) nach gesungener Arie sich hoch über den Köpfen der unten stehenden quer über die senkrecht in der Luft stehenden Riesenkarten von links nach rechts durchhangelt, um sich dann am Boden mit Don José einen weiteren Dialog zu erlauben.
Apropos Don José: Falsch denkst Du, wenn Du „Don Chosé“ aussprichst. Zwar wäre dies auf spanisch die rechte Wahl, aber die Handlung ist auf französisch, deshalb „Don Schosé“, mit stimmhaftem SCH. Keine Angst, alles, was gesungen wird, kannst Du auf Leuchttafeln übersetzt auf deutsch sehen – die Tafeln stehen links und rechts vom Bühnenbild im See. Mit den Augen hast Du also massiv zu tun: Es tut sich oben und links und rechts und unten etwas. Wenn das nicht reicht, springt ein Akteur ins Wasser, plantschen andere rhythmisch in weit aufspritzenden Wassergischten im Bodensee herum oder werden Leichen (oder was der Zuschauer dafür hält) von Schmugglerbooten in den See geworfen.
Zur Oper (aus der Feder der Bregenzer Festspiele)
Sie wird von allen begehrt und fasziniert die Wachsoldaten in ihrem Alltag zwischen Rauchen und Kartenspielen: Carmen. Eigentlich soll der Soldat Don José sie nach einer Auseinandersetzung verhaften, doch sie wickelt ihn um den Finger. Für seine Schwäche wird er verhaftet, kommt aber schnell wieder frei. Die Blume, die Carmen ihm zugeworfen hat, versteht er als Zeichen ihrer Liebe und träumt von einer gemeinsamen Zukunft, wofür er sogar seine Stellung aufs Spiel setzt. Er verschanzt sich mit ihrer Schmugglerbande, überhört Micaëlas mahnende Worte und sieht sich selbst dem stolzen Stierkämpfer Escamillo überlegen. Dieser hat aber längst Carmen erobert und bringt Don Josés Eifersucht zum Rasen…
Georges Bizets mitreißende Musik mit ihren spanisch anmutenden Klängen eroberte die Welt: Carmens Habanera und Seguidilla sind ebenso wie Escamillos Couplet in aller Ohren. Für die erfolgreichste Oper des französischen Komponisten entwirft die britische Künstlerin Es Devlin das Bühnenbild im Bodensee. In ihren Kulissen traten Popstars wie Adele, U2, Take That, Pet Shop Boys und Kanye West auf. Gemeinsam mit dem Regisseur Kasper Holten, Intendant des Londoner Royal Opera House, arbeitete sie bereits an den Opernhäusern in Helsinki und Kopenhagen, im Theater an der Wien und am Royal Opera House Covent Garden.
Für den dänischen Regisseur handelt diese „Oper über Schicksal und Besessenheit“ von „zwei Menschen, die als Außenseiter behandelt werden, deren Wege sich kreuzen und die sich in einer leidenschaftlichen, aber ungesunden Beziehung aneinander klammern.“
Die Oper Carmen in Kürze (diesmal in english, nicht français, nicht español)
Ich empfehle Dir dringend, vor der Vorstellung die (kostenpflichtige) Einführung anzusehen. Du bekommst einen besseren Zugang zum Libretto der Oper und auch dazu, wie und warum so und nicht anders Regisseur und Cast die Oper so aufführen, wie sie sie aufführen. Vorgestellt mit Powerpoint-Präsentation von – in meinem Fall – einem der Regieassistenten, der die Sache professionell darbietet.
Dabei hören wir auch, dass „Carmen“ eine der drei weltweit am meisten aufgeführten Opern ist und fast jedermann die Gassenhauer (oder die Erwähnung in Filmerzeugnissen wie unten) mitbekommen hat.
Das Bühnenbild
Zahlen und Fakten zur Technik
- Von der Fertigung, über die Montage, bis hin zu technischen Endkorrekturen vergehen zirka zehn Monate. Die Planung erstreckt sich über zwei bis drei Jahre.
- 37 Technikfirmen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz sind an den Aufbauarbeiten beteiligt.
- Gleichzeitig sind auch 18 Festspieltechniker, inklusive Kranführer, mit dem Bühnenaufbau beschäftigt.
- Die Seebühne ist auf rund 119 Pfählen errichtet, die bis zu sechs Meter tief in den Seegrund gerammt sind. Sie bestehen entweder aus Fichtenholz oder aus Stahl.
- Die linksseitige „Hand Lindau“ erreicht an ihrer höchsten Stelle rund 21 Meter und wiegt rund 24 Tonnen inklusive Unterarm. Die rechtsseitige „Hand Bregenz“ ist knapp 18 Meter hoch und bringt ein Gewicht von rund 20 Tonnen inklusive Unterarm auf die Waage. Die Hände sind zirka 30 Meter voneinander entfernt. Das Obermaterial – die sogenannte Kaschur – der Hände besteht aus einem Fassadenputz, Styropor, mehreren Farbschichten und Lack. Die gesamte Kaschur setzt sich aus rund 190 dreidimensional gefrästen Einzelteilen je Hand zusammen. Darunter befindet sich eine Konstruktion aus Stahl und Holz. Sie bestehen aus den konstruktiven Stahlelementen für den Unterarm, Handgelenk, Ballen, Mittelhand und den fünf Fingern. Zur Standsicherheit sind zirka 15 Tonnen Ballast je Hand verbaut.
- Die insgesamt 15 Flying Cards sind jeweils knapp 7 mal 4,30 Meter groß. Der höchste Punkt der Flying Cards liegt bei rund 24 Metern. In den Händen und den Flying Cards sind insgesamt rund 57 Lautsprecher eingebaut.
- Der Drehscheiben-Durchmesser der Cards and Nucleus misst zehn Meter. Hinter der Drehscheibe befinden sich drei statische Karten in denen fünf Lautsprecher versteckt sind.
- Die bewegliche Mesh-Plattform misst rund 14,3 mal 10,6 Meter und besteht aus sechs Karten. Die Geschwindigkeit, um die Karten auf und ab zu bewegen, beträgt zirka drei Meter in drei Minuten.
- 28 Karten sogenannter Beach-Karten liegen am Boden und im Wasser verstreut. Die Beach-Hauptspielfläche besteht aus 18 Karten. Die Karten sind als Kartendeckblatt bemalt und werden mit Projektionen bespielt. Außerdem gibt es sechs unsichtbar verbaute Feuerschalen auf dem Beach. In den Beach-Karten sind 14 Lautsprecher versteckt.
Die Mitwirkenden bei „meiner“ Aufführung von „CARMEN“
Musikalische Leitung Paolo Carignani
Carmen Gaëlle Arquez
Don José Daniel Johansson
Escamillo Scott Hendricks
Micaëla Elena Tsallagova
Frasquita Jana Baumeister
Mercédès Marion Lebègue
Zuniga Sébastien Soulès
Moralès Rafael Fingerlos
Remendado Simeon Esper
Dancaïro Adrian Clarke
Stuntmen – Wired Aerial Theatre | Tänzer | Statisten
Bregenzer Festspielchor
Prager Philharmonischer Chor
Kinderchor der Musikmittelschule Bregenz-Stadt
Wiener Symphoniker
Was mir zu denken gibt
Manches scheint übertrieben. Natürlich ist es trickreich, Video-Animationen in die Karten zu projizieren. Aber nicht immer und überall. Auch die an den Seilen herumhampelnden, dann scheinbar tot hoch auf den Karten stehenden Stuntpersons lenken nur vom eigentlichen Spiel ab. Weniger ist mehr.
Was mich besonders stört: Ja, es ist bekannt, dass die gute Carmen in einer Zigarettenfabrik arbeitet, während sie nach der Arbeit mit Karten und Männern spielt und nebenbei einer Schmugglerbande angehört. Aber muss die Kippe in der linken Hand der „Riesencarmen“ während des ganzen Spiels glimmen und dampfen? Wie mir scheint, hat ein Raucher oder dem Rauchen als Freiheitssymbol Aufgesessener bestimmt, dass während eines langen Zeitraums die Akteure einen Glimmstängel (Rauchen kann den Tod verursachen) in der Hand respektive im Mund (Rauchen kann ZungenKrebs hervorrufen) tragen.
Gut, Carmen stirbt in Bregenz nicht am Rauchen, sondern an – spoiler – einer akuten Dihydrogenoxid-Vergiftung, aber dass Rauchen an den Fabrikarbeiterinnen von den sie beobachtenden Soldaten als sexy (Originalübersetzung, die eingeblendet wird: „scharf“) angesehen wird (schon mal einen Aschenbecher ausgeschleckt?) und das auch noch besungen wird (ich kenne Kettenraucher, die hängen mit 60 Jahren an der Sauerstoffflasche), das geht mir nicht in den Kopf.
„This performance was sponsored by the union of international tobacco producers“ – manchmal denke ich schon, das Marketingbudget der Fernsehfilme der letzten Jahre bekommt verstärkt einen gehörigen Zuschuss von den Suchthelfern der Tabak- und Alkoholindustrie.
Was mir nicht gefallen hat: Im Gegensatz zum Vorjahr gab es leider kein freies WLAN mehr auf der Zuschauertribüne. Vielleicht aus Kalkül? Dieses Jahr (2017) ging man recht rigoros gegen Menschen vor, die nach dem Beginn der Vorstellung vom Bühnenbild und dem Geschehen auf der Bühne Fotos machen wollten. Sobald ein kleiner Monitor (eines Smartphones oder einer Digitalkamera) in der Menge zu sehen war, leuchtete eine Hilfskraft den „Störer“ so lange mit der Taschenlampe an, bis dieser sein Tun abbrach. Dies wurde manchmal den Umsitzenden so erklärt, dass es die anderen störe, wenn man selbst Fotos mache. Meiner Meinung nach störte es aber mehr, wenn die Umsitzenden durch die Taschenlampe geblendet und/oder vom „Spiel auf dem See“ abgelenkt wurden.
Nachtrag
Nach so vielen „übrigens“ und „apropos“ jetzt noch ein Nachtrag. Obwohl ich nicht immer nachtragend bin, nur dann, wenn es sich lohnt (Rache und so).
Einiges zum Wetter: Es ist schon sehr trickreich, wenn an einem lauen Sommerabend, als die Hitze des Tages nach Sonnenuntergang langsam nachlässt, kurz nach dem Beginn der Oper Carmen ein Blitz die „Blaue Stunde“ unterbricht und es wie aus Kübeln zu schütten beginnt. Am Tag zuvor nämlich tat es das durchwegs von ganz oben (Schauer und Gewitter genannt). Heute jedoch nur so, dass sämtliche Spielkarten (und teilweise auch Akteure) auf dem Bühnenbild nass werden. Also künstlich, durch Theaterblitz, Theaterdonner und Theaterregen. Glück gehabt!
Was tun also, wenn das „echte“ Gewitter nicht nur die Spielenden, sondern auch die Schauenden erfasst?
Nun, da gibt es bei den Bregenzer Festspielen eine klare Ansage in den FAQ:
Die Aufführung auf der Seebühne ist eine Open-Air-Veranstaltung…
Die Entscheidung, ob die Vorstellung auf der Seebühne gespielt werden kann, wird erst kurz vor Aufführungsbeginn getroffen.
Dies hängt damit zusammen, dass die Wetterentwicklung trotz einer heutzutage hohen Vorhersage-Qualität nicht völlig genau bestimmt werden kann und daher aufgrund der tatsächlichen Wettersituation entschieden werden muss.
Ab 20.00 Uhr erhalten Sie im gesamten Festspielgelände über Lautsprecherdurchsagen regelmäßig Informationen zur aktuellen Situation. Es kann auch zur Verzögerung des Beginns oder zu Unterbrechungen kommen. Wir empfehlen unseren Gästen daher, warmer und regensicherer Kleidung den Vorzug zu geben.
und zur Regenabsage:
ABSAGE- UND ÜBERSIEDELUNGSREGELUNG FÜR DAS SPIEL AUF DEM SEE
Karten der Kategorie 1, 2, der Festspiel-Lounge und Premium-Tickets (Hauskarten) sind – bei Absage auf der Seebühne oder einer Spielzeit unter 90 Minuten – für die halbszenische Aufführung im Festspielhaus gültig und werden nicht rückerstattet. Auf der Seetribüne nebeneinander liegende Plätze können aufgrund der unterschiedlichen Reiheneinteilung im Festspielhaus getrennt sein.
Karten der Kategorie 3 – 7 (Seekarten) sind nur für die Aufführung auf der Seebühne gültig. Bei einer Verlegung der Aufführung ins Festspielhaus erhalten Besitzer dieser Karten dann den Kartenwert voll rückerstattet bzw. können auf einen späteren Termin umtauschen, wenn die Aufführung auf der Seebühne nicht bzw. weniger als 60 Minuten gespielt worden ist.
Für Carmen-Fans mit Mobilitätseinschränkung
Aus den FAQ:
ICH BIN ROLLSTUHLFAHRER. GIBT ES SPEZIELLE PLÄTZE FÜR MICH?
„Die Bregenzer Festspiele haben spezielle Plätze für Rollstuhlfahrer und deren Begleitperson. Diese Plätze liegen direkt beim Aufgang H (vor den Kategorien 4/5H bzw. 6G). Die Ermäßigung für die Rollstuhlfahrer und deren Begleitung liegen je nach Platz bei bis zu 40% auf den regulären Kartenpreis der Blockkategorie.“
Fakten
Carmen:
- Oper in vier Akten (1875) von Georges Bizet
- Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy
- nach Carmen von Prosper Mérimée (1845)
- In französischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Weitere Vorstellungen:
4., 5., 7., 8., 9., 10., 11., 12., 14., 15., 17., 18.,
& 19. August – 21.00 Uhr
Trauriger Fakt (für den Opernfan): Fast alle Vorstellungen sind ausverkauft. Aber die Hoffnung naht: 2018 wird CARMEN nochmals aufgeführt.
Warum es für Carmen am Ende echt feucht wird? Dies Bild erspart mir tausend Worte:
Achtung: Nachfolgender Absatz kann Gedanken hervorrufen
Der Biochemiker in uns würde die Geschichte, wie sie sich mir in Bregenz dargeboten hat, und wie sie tagtäglich durch die Messer- und sonstigen Verletzungen von Frauen durch die Hände abgewiesener und verlassener Freunde, Gefährten und Ehegatten in den Gazetten publiziert wird, ganz einfach darstellen:
Zu viel Oxytocin!!!
möchte man Don José zurufen. Die Fixiertheit (Hörigkeit?) auf seine vormalige Partnerin, die ihn „eiskalt“ abblitzen lässt, weil sie schon längst einen anderen (seltsamerweise einen mit Geld um sich schmeißenden angeberischen Stierkämpfer) hat, macht ihn verrückt und sie kalt, im wahrsten Sinne des Wortes.
Atemberaubend sozusagen. Wie der ganze Abend in Bregenz. Geh hin, es lohnt sich!
Weiterführende Links
Panoramawebcam Bregenzer Festspiele 2017 – 2018 mit Carmen von George Bizet
Bergtheater Thale – bei Wikipedia
Kritik – Bregenzer Festspiele: Carmen-Spektakel mit Blitz und Donner (Quelle: Bayerischer Rundfunk)
Kritik: Die Oper „Carmen“ von Georges Bizet bei den Bregenzer Festspielen (aus: Merkur.de)
Kritik: Bregenzer Festspiele 2017: Carmen geht doppelt baden – (aus: WELT)
vergangene Freilichtopern in Bregenz, über die ich berichtet habe:
Oper Turandot in Bregenz: Die Dame braucht reichlich Vorspiel
Unvergesslich: Bregenzer Festspiele 2014. Die Zauberflöte – von Wolfgang Amadeus Mozart
Danke für die Einladung durch die Bregenzer Festspiele. Meine Meinung bleibt durch die kostenfreien Tickets wie immer unberührt. Eh kloar.