Spanien: Handkes Jukebox trifft auf Dr. Schiwago in Kastilien
Translation with Google
Autor: | Gastautor Wolfgang Schumacher |
Reisezeit: | Oktober 2024 |
Art der Reise: | Pressereise |
Lesezeit: | 4 Minuten |
Handkes Jukebox trifft auf Dr. Schiwago
Eine Reise in die Leere der kastilischen Landschaft. Über Pilze und das Essen der kleinen Wölfin.
Soria/Kastilien: Stille, Weite, unendliche lichte Wälder, hochgewachsene Bäume, Landschaft in XXL – und das im ansonsten oftmals von Urlaubern überfüllten Touristenland Spanien? Ja, die iberische Halbinsel ist mit ihrer Fläche von rund 583.000 Quadratmetern weitläufig und groß, und wer dort Stille sucht, wird die Stille finden.
Der Sehnsuchtsort für Stille und Einkehr lag oder liegt für den durchaus umstrittenen deutschen Romancier und Stückeschreiber Peter Handke in dem Ort Soria, einer im Norden Spaniens gelegenen Stadt mit nur rund 40.000 Einwohnern in der zentralspanischen Region Kastilien-Leon, gelegen auf einem rund 1000-Meter hohen und eher hügeligen Plateau, durch das sich der Fluss Duero schlängelt.
Handke suchte Ende der 1980er Jahre eben solche schwer lastende Stille, wohl wissend, dass dort sein großer spanischer Schriftstellerkollege Antonio Machado in dem kleinen Provinznest Soria lebte. Der von den Spaniern hochverehrte Lyriker aus Andalusien lehrte zwischen 1907 und 1912 Französisch in der Schule mitten in der Stadt.

Grab der schönen Leonor, der Lebensliebe des spanischen Lyrikers Antonio Machado
Dies tat er, weil er sich zunächst unsterblich in die schöne Kastilierin Leonor Izquierdo verliebt hatte – und dann diese große Liebe auf die herbe Naturschönheit der einsamen Landschaft übertrug, unter anderem in den Versen aus „Campos de Castilla“ (Felder Kastiliens), in denen er das einfache Leben der Bewohner in großartige Lyrik goss.
Handke war 1989 der deutsche Mauerfall anscheinend ziemlich egal, er suchte die Einsamkeit, ja beinahe die Einsiedelei, die in der kastilischen Hochebene Meseta rund um Soria durchaus eine feste Tradition hat. Wie damals Machado wollte Handke inspiriert von dieser Landschaft aus dunkelgrünen bis hellbeigen Grasflächen und bestückt mit aus Bruchsteinen gebauten Häusern Erkenntnis schöpfen.
Der heute wie damals umstrittene Dichter quartierte sich in einem Zimmer in Soria ein und begann seine heute bereits klassische Erzählung „Versuch über die Jukebox“ (Suhrkamp 1990), in der die in Kneipen wummernde „Wurlitzer“-Jukebox als amerikanischer Traum Handkes Lebensstationen einen zeitlichen Halt gibt und ihn zu seiner inneren Zerrissenheit wie zu seinen literarischen Gestaltungsersuchen führt. Soria und die Landschaft des Duero war seine Eremitage, der damalige Fluchtpunkt des späteren Literaturnobelpreisträgers.
Soria hat mit der quasi nebenan in der autonomen Region Aragon gelegenen Provinzhauptstadt Teruel – die im spanischen Bürgerkrieg harte Kämpfe zwischen Frankisten und Republikanern aushalten musste – gemeinsam, dass beide Städtchen sich von Madrid völlig vergessen fühlen, Teruel ist nochmals mit einer Einwohnerzahl von rund 36.000 Seelen ein wenig kleiner als ihr kastilisches Pendant.
In Soria hat sich seit etwa 20 Jahren gegen jenes institutionelle Vergessen durch die Zentrale in Madrid die Bewegung „Soria, Ja!“ gebildet, vertreten etwa durch die an die Provinzregierung angebundene Anna Maria Valen, die Bewegung gegen das Vergessen wird unterstützt von regionalen Unternehmern, den Gewerkschaften sowie diversen Nachbarschaftsvereinen. Und man kooperiert eng mit dem Schwesterverein „Teruel Existe!“, ähnlich dem deutschen Dauerdementi, dass es Bielefeld nicht gebe.
Anders als das wohlhabende ostwestfälische Bielefeld kämpfen die spanischen Städte dort im tiefen Landesinneren gegen die Leere. Man schloss sich sogar 2019 zur Partei „España vacia“ – „Das leere Spanien“ – zusammen. Kampfmittel sind regelmäßige Straßenblockaden, weil man eine „Autovia“, eine Autobahn, ins dünnbesiedelte Land will, sie soll die Region an die Hauptstadt anbinden. Zwar bekam die Bewegung 2022 drei Sitze im madrilenischen Parlament, das war‘s dann aber auch schon, vermerkte Anna Maria Valen bekümmert.
Dabei verfolgt die Provinzregierung wie auch anderswo im Land energisch touristische Infrastrukturmaßnahmen. Wer die Einsamkeit mit simplen Ferienfreuden aufpeppen will, hat in der Weite der Meseta durchaus Optionen, Optionen, die allerdings ein Handke wohl naserümpfend hätte rechts liegenlassen. Denn es gibt einen großzügigen Fahrradwanderweg auf der ehemaligen Eisenbahnstrecke durch die Berge der Region Pinares nach Navaleno, die ausgeschilderte Route heißt „via Santander – Mediterraneo“, also von der atlantischen Küstenstadt Santander bis ans Mittelmeer. An sie grenzen die Eichen- und Kiefernwälder, die auf diesem Teilstück dicht die Route säumen. Die Strecke ist allerdings absolut familienfreundlich und mit in Navaleno mietbaren E-Mountainbikes sehr gut zu bewältigen.
Quasi mittendrin „verstecken“ sich dort im Herbst unendliche Pilzflächen, erklärt Guide Victor Alonso aus Navaleno und warnt zugleich, vor den „tödlichen“ Exemplaren, unübersehbar lacht den Betrachter ein scharlachroter Fliegenpilz mit seinen weißen Tupfern an.

Essen dagegen mag man gefahrlos die zahlreichen Steinpilze oder den Pfifferling, sie wachsen dort alle wild in einer Anzahl, wie man sie allenfalls in künstlich angelegten Kulturen erwarten würde, auch ein Pilzkongress finde hier alle zwei Jahre statt, vermeldet Pilzführer Victor Alonso stolz.
Gleichermaßen gefahrlos lassen sich die einheimischen Pilze im Ein-Sterne-Restaurant „La Lobita“ (übersetzt „die kleine Wölfin“) in Navaleno verputzen, ein Michelin-Stern für einen Koch dort in der ansonsten vergessenen Welt ist schon etwas Besonderes.
An der Bahnstrecke finden sich noch einige malerische Bahnhöfe der einstigen Regionalbahn, die unter anderem die Erze der Hochebene bis hinunter nach Valencia an der Küste brachte. An einem ehemaligen Haltepunkt unmittelbar an der Strecke blickt man verwundert auf eine große Schautafel, von der legendäre Hollywood-Größen herabschauen. Bei näherem Hinsehen kommt große Staunen auf.
Denn der Ort mitten im Wald an der Strecke Richtung Navaleno war Drehort des berühmten Film-Klassikers „Doktor Schiwago“.

Bildtafel an der Bahnstrecke zur Erinnerung an den Drehort dort des Filmklassikers Dr. Schiwago
Die Tafeln legen Zeugnis darüber ab, dass die Eisenbahnstrecke als Drehort für einige Szenen mit dem sibirischen Zug des Doktors benutzt wurde – und das allerdings mitten im Sommer, der Schnee wurde damals durch weißen Marmorstaub auf Wachs imitiert, Omar Sharif musste also eher schwitzen als frieren. Regisseur David Lean drehte 1964 in Madrid und an diesem Gleis mitten im Wald nahe Soria, die Crew hatte natürlich keine Drehgenehmigung in der Sowjetunion für die Pasternak-Verfilmung bekommen.
Wer nun ganz anders als Eremit Handke luxuriös unterkommen möchte, findet im mittelalterlichen Städtchen El Burgo de Osma ein hochklassiges Hotel mit Termal-Spa in einem alten Universitätsgebäude der Renaissance, das „Castilla Termal Burgo de Osma“ mit etwa 70 Zimmern, dort lässt es sich in der Tat gut wohnen.

Futuristische Dachkonstruktion auf dem historischen Luxus-Termal-Hotel in Burgo de Osma
Handke dagegen ließ seinen Erzähler in der „Jukebox“ regelmäßig in einer unscheinbaren Bar in Soria an der Brücke über den Duero einkehren, der romantische Ort hieß „Alegria del puente“, übersetzt die Freude der Brücke, die Freude als Sehnsuchtsort existiert allerdings heute dort nicht mehr.

Duero Brücke bei Soria, hier suchte Peter Handke 1989 dichterische Erleuchtung
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Titelbild: Soria, Plaza Mayor mit Kollegiatkirche
Alle Fotos: Wolfgang Schumacher